HU IS HU? Wolfgang Kubin – Übersetzer, Wissenschaftler, Dichter

Eigentlich wollte Wolfgang Kubin (76) Fußball-Nationalspieler werden. „Aber ich habe mit 14 Jahren zu spät angefangen.“ Dann wollte er Jazz-Musiker werden. „Aber ich hatte nicht das musikalische Gehör dafür.“ Schließlich Dichter. „Aber ich wusste nicht, wie das geht.“ Und was wurde letztendlich aus ihm? Einer der bekanntesten europäischen Sinologen. Ein kreativer Arbeiter mit unbändigem Schaffensgeist, der Dutzende von Büchern selbst geschrieben oder editiert hat: „Meine Publikationsliste umfasst 200 Seiten.“

Um ihn und seine Disziplin zu verstehen, sollte man sich seinen gewöhnlichen Tagesablauf anschauen. So gegen halb drei Uhr morgens steht Kubin in seinem Bonner Haus auf, macht sich eine Tasse Kaffee und schreibt Gedichte. Ein frühmorgendlicher euphorischer Gemütszustand stellt sich ein: „Ich bin dann nur glücklich.“ Nach ein, zwei Stunden tritt dichterische Erschöpfung ein. Er wechselt das Genre und schreibt am dritten seiner auf fünf Bände angelegten Autobiographie weiter. Danach beantwortet er Mails und Briefe. Gegen acht Uhr widmet er sich seiner wissenschaftlichen Arbeit, nachmittags übersetzt er, derzeit meist chinesische Gegenwartslyrik, „weil das sonst kaum jemand macht.“

Woher diese Disziplin kommt? „Die Griechisch- und Lateinlehrer am Gymnasium Dionysianum in Rheine erzogen uns zur Selbstdisziplin. Die habe ich irgendwann übernommen.“ Zunächst studierte er in Münster evangelische Theologie. „Ich kam mit der modernen Theologie, die damals vertreten wurde, nicht zurecht.“ Er wechselte zu Germanistik, Philosophie und Sinologie. Zu letzterer kam er über den amerikanischen Dichter Ezra Pound, der auch ostasiatische Lyrik übersetzt hatte. Kubin: „Da ich schon viele Sprachen gelernt hatte und immer an Sprachen interessiert war, schaute ich, was man in Münster in klassischem Chinesisch lernen konnte. Da waren wir mit drei Leuten. Da merkte ich plötzlich, ich bin am richtigen Ort.“ Über Wien, wo er noch mit Japanologie anfing, und Bochum, wo er sehr früh promovierte, schlidderte er dann in die ungeplante sinologische Karriere.

Nach einem ersten China-Aufenthalt 1974/75 wurde er wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin, wo man ihn zur Habilitation drängte, die er auch 1981 abschloss. Dann begann die Lehrstuhlsuche. „Ich habe mich überall beworben, wurde aber aus politischen Gründen abgelehnt, weil ich von einer roten Uni kam. Dabei bin ich doch ein Konservativer.“ Seine Rettung war die Uni Bonn. „Das war die letzte Uni, sonst hätte ich aufgegeben.“ In Bonn lehrte er bis zu seiner Emeritierung 2011. Derzeit unterrichtet er an der Universität Shantou in der Provinz Guangdong, ausschließlich in Präsenz. Erst kurz vor Weihnachten kam er wieder aus China zurück. Sein Vertrag läuft dort noch bis Sommer 2023.

Gerade hat er das zehnbändige Werk „Geschichte der chinesischen Literatur“ abgeschlossen (erschienen bei Saur/De Gruyter). Endlich, nach 32 Jahren. War das sein Lebenswerk? Oh, nein. Er verweist auf die sechsbändige Ausgabe mit Texten von Lu Xun, dem Vater der modernen chinesischen Literatur. Oder die bei Herder erschienenen zehn Bände über klassisches chinesisches Denken. Damit nicht genug: „Derzeit sitze ich an einer nächsten großen Sache: Zehn Bände klassische chinesische Dichter.“ Zwischendurch übersetzt er. Gerade kam das von ihm übersetzte Buch „Das Stadttor geht auf“ von Bei Dao auf den Markt. Er übersetzt Regimekritiker und unterrichtet trotzdem in China, wird dort sogar zu Vorträgen an die Parteihochschule eingeladen. Wie geht das zusammen? „Ich weiß, wie ich Dinge formulieren kann und muss. Ich übe freundliche Kritik und bleibe dabei sachlich.“

Für die China-Basher hierzulande hat er wenig Verständnis. Die zunehmende Konfrontation des Westens mit China bedrückt ihn. „Die USA wollen die Macht nicht abgeben und suchen Dinge, die sie anheizen können, erst Tibet, dann die Uiguren, Hongkong und nun Taiwan.“ Wohin soll das führen? Er antwortet: „Zum Krieg“. Kurze Pause: „Das macht mich traurig.“ Aber so betrübt kann ein Porträt von Wolfgang Kubin nicht enden. Reden wir zum Schluss deshalb noch über die schönste Nebensache der Welt – den Fußball. Frage an den verhinderten Nationalspieler: Spielen Sie noch? „Ja, seit 30 Jahren hier in Bonn stets mit derselben Truppe. Immer samstags auf dem Venusberg oder dem Brüser Berg.“   

Info:

Hier ein aktuelles Interview mit Wolfgang Kubin über chinesische Literatur: https://blog.degruyter.com/chinesische-literatur-war-schon-immer-weltliteratur-ein-interview-mit-wolfgang-kubin/ Viele Bücher von Wolfgang Kubin sind im Bacopa-Verlag erschienen. Hier eine Übersicht: https://www.bacopa-verlag.at/autoren/wolfgang-kubin-1

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