In Europa haben sie zu Corona-Zeiten von den Balkonen gesungen, und unten applaudierte das Fußvolk. In Shanghai schreien aus den Fenstern Hilferufe, und von unten wird von Polizisten zurückgebrüllt: Seid ruhig! Verkehrte Welt. Deutschland, Europa, ja fast der ganze Rest der Welt lockert und öffnet. Nur China bleibt dicht. Kein Land fährt noch eine Null-Covid-Strategie – außer China. Die Führung dort glaubt ernsthaft, das Virus ausrotten zu können. Deshalb werden – sobald der unsichtbare Feind auftaucht – Städte rigoros dichtgemacht. Vorgestern Xi´an, gestern Shenzhen, heute Shanghai und morgen die nächste Mehrmillionenstadt. Soll das noch Monate oder gar Jahre so weitergehen? Wie lange will Chinas Führung diese Politik noch durchhalten? Der Unmut wächst, bei den Expats sowieso, aber auch bei der bislang demütigen und verständnisvollen Bevölkerung. Dazu kommt der wirtschaftliche Schaden, für die chinesische, aber auch zunehmend die globale Wirtschaft. Vom Imageverlust des Landes gar nicht zu reden. Dabei gäbe es relativ einfache Wege, die aus der Misere führen könnten: Die noch 150 Millionen älteren Ungeimpften endlich impfen und den Rest der Bevölkerung boostern. Dabei könnte man auch den westlichen und wirksameren mRNA-Impfstoff einzusetzen, was bislang nicht geschah. Das ist verwunderlich, weil mit Fosun ein chinesisches Unternehmen früh mit Biontech kooperiert und dort auch Hunderte von Millionen investiert hat. Aber der Einsatz von Biontech würde ja bedeuten, dass ein westliches Produkt besser wäre, und sein Einsatz käme einer Niederlage im Wettstreit der Systeme gleich. Eine solche will und kann sich Xi Jinping offenbar vor dem Parteitag im Herbst, auf dem er wiedergewählt werden will, nicht leisten. Bis dahin werden wir weiterhin mit phasenweise dichten Städten leben müssen. Gerade meldet Guangzhou erste Schließungen.
Wolfgang Hirn