CHINESISCHER ALLTAG I Höher, schneller, weiter – Über die Bildungschancen junger Chinesen / Von Imke Vidal

Chinas neuer Wohlstand hat außer dem Lebensstandard auch die Erwartungshaltungen vieler Familien in Bezug auf die Zukunft ihrer Kinder verändert. Die junge Generation hat Chancen, die ihre Eltern nicht hatten. Studiere, wer kann, scheint das neue Motto zu sein – und zwar am liebsten an den Eliteunis in Städten wie Peking oder Shanghai, die freilich nur die Besten nehmen und von ihnen nur sehr wenige.  Auch ein Studium im Ausland steht für viele heute weit oben auf der Wunschliste. Selbst in der Pandemie sind die Zahlen im Ausland studierender Chinesen kaum zurückgegangen. Vor Corona sanken zwar die Zahlen in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland deutlich, was auf politische Gründe zurückzuführen war. In anderen Ländern hingegen stiegen die Zahlen im gleichen Zeitraum weiter. Dies gilt besonders für Europa, wo nach Großbritannien Deutschland und Frankreich beliebte Ziele sind. Was auf den ersten Blick wie ein Erfolg wirkt, hat aber auch seine Schattenseiten. Hochschulabsolventen mit Doktortitel sind inzwischen nicht selten als Lehrer an Chinas Mittelschulen zu finden. Teils geben sie dafür gar ihre Postdoc-Stellen auf. Dabei braucht man für eine Lehrerstelle in China höchstens einen Master. Ist dies ein Zeichen, dass China mehr Akademiker produziert als es braucht? Und was wird aus den Auslandsstudierenden, wenn sie nach China zurückkommen? Welche Vor- und Nachteile haben sie, wenn sie in China auf den Arbeitsmarkt drängen?

Die junge Soziologin Li Jun, Assistenzprofessorin an der Universität von Qingdao (Qingdao Daxue) und assoziierte Doktorin an der französischen CESSMA (Centre d’études en sciences sociales sur les mondes africains, américains et asiatiques), hat sich mit solchen Fragen auseinandergesetzt. Für ihre Doktorarbeit über chinesische Studierende in Frankreich hat sie Student:innen aus Paris, Dijon und Lyon zu ihren Erfahrungen befragt und die Ergebnisse ausgewertet. Dabei interessierte sie sich besonders für die Rückkehr der Absolvent:innen nach China und für ihre Erfahrungen auf dem chinesischen Arbeitsmarkt. In einem Interview erklärt sie Vor-und Nachteile eines Auslandsstudiums für junge chinesische Studierende, berichtet aber auch von den Schwierigkeiten, denen junge Chinesinnen und Chinesen heute im In- und Ausland begegnen: Überhöhte Erwartungen zuhause, ideologische Hürden im Ausland und jede Menge Druck.

CHINAHIRN: Was hat sich für junge Studierende heute in China verändert?

LI: Nach wie vor wollen eigentlich alle an die großen Universitäten des Landes. Wer das nicht schafft, will zumindest im Ausland studieren. So lässt sich ein Lebenslauf aufpolieren, glauben viele. Damit ist ein Studium im Ausland inzwischen beinah schon ein Pflichtprogramm.

CHINAHIRN: Weil man sich das heute leisten kann?

LI: Auch die Mittelschicht kann sich heute ein Auslandsstudium für die eigenen Kinder leisten. Dabei kommt die Initiative aber nicht immer von den Studierenden selbst. Manche der von mir Befragten sagten, es seien ihre Eltern gewesen, die auf ein Studium im Ausland drängten. Wenn die Tochter der Nachbarin plötzlich in Europa studiert, sorgen sich manche Eltern um den Lebenslauf der eigenen Kinder. Viele Chinesen sehen darin eine Investition in die Karriere der Kinder.

CHINAHIRN: Wie schwer ist diese Investition für chinesische Familien?

LI: Die Elite kann sie sich längst leisten. Die wohlhabenderen Familien schicken ihre Kinder hauptsächlich in den anglophonen Raum, am liebsten an die renommierten Unis in den USA oder Großbritannien. Ein Studium in anderen Ländern ist aber auch für die Mittelschicht erschwinglich, besonders in Frankreich und Deutschland. In China gibt es das Prinzip des familiären Sponsorings. Die Familie kommt also für den Studienaufenthalt auf. Das ist für die meisten zwar ein Aufwand, aber keine enorme Belastung mehr. So viele können sich das inzwischen leisten, dass diese Art des Studiums tatsächlich zu einer Art Norm geworden ist.

CHINAHIRN: Und zahlt sich das am Ende aus?

LI: Das ist nicht immer gleich zu beantworten. Da kommt es auf verschiedene Faktoren an: Auf den Fachbereich, die Persönlichkeit, die Erwartungshaltung. Ich habe in meiner Studie alle Interviewten nach ihrem Gehalt in China befragt. Viele verdienen gut, aber nicht überdurchschnittlich gut. Damit ist nicht jeder zufrieden. Manche erwarten aufgrund ihrer Auslandserfahrung ein höheres Gehalt. Aber ein chinesischer Arbeitgeber sieht im ausländischen Studienabschluss nicht immer einen Mehrgewinn. Manche wissen einen ausländischen Abschluss nicht einzuordnen. Das ist dann für das Gehalt nicht immer von Vorteil. Und auch bei der Jobsuche kommt es darauf an, was man sich vorstellt. In Einzelfällen zahlt es sich ganz eindeutig aus. Etwa für die Studentin, deren Eltern einen Weinhandel haben. Sie konnte sich in Frankreich gezielt auf Weinhandel spezialisieren und damit ihre Rückkehr in das Familienunternehmen vorbereiten. Gewöhnlich aber streben Absolvent:innen der Wirtschaftsstudiengänge nach Jobs in internationalen Firmen. Dort ist das Auslandsstudium dann durchaus wichtig im Lebenslauf und erhöht die Chancen. Es gibt auch Student:innen, die in ihrer Gaokao [der chinesischen Abschlussprüfung, vergleichbar dem Abitur] eine so geringe Punktzahl erreicht haben, dass sie es in China nicht nur an keine Elite-Uni, sondern an gar keine Uni schaffen können. Solche Student:innen könnten entweder die Gaokao wiederholen, um eine höhere Punktzahl zu erreichen, oder sie studieren eben im Ausland. Insbesondere in Frankreich ist der Zugang zu den Universitäten viel leichter als in China.

CHINAHIRN: Lässt sich damit das Problem einer schlechten Gaokao wirklich beheben?

LI: Das ist nicht so einfach. Einerseits kann so ein Bachelor oder sogar Master erworben werden, was in China unmöglich gewesen wäre. Andererseits ist nicht klar, ob das einem chinesischen Arbeitgeber dann reicht. Nicht jeder findet anschließend einen Job in China, der seinem ausländischen Diplom entspricht. Für manche ist das enttäuschend. Sie haben hart für ihren ausländischen Abschluss gearbeitet. Noch dazu in einer fremden Sprache, die ihnen schwerfällt.

CHINAHIRN: So ergeht es anscheinend vielen Chinesen mit Doktortitel auch innerhalb Chinas. Auch da scheint es nötig, die Erwartungen an die eigene Karriere herunterzuschrauben. Oder woran liegt es, dass immer mehr Schulen Lehrer mit Doktortitel einstellen?

Li: Dazu muss man sehen, dass man als Chinese praktisch sein ganzes Leben lang eingestuft wird. Das ist ein immenser Leistungsdruck. Viele machen das mit, vielleicht sogar bis hin zum Doktortitel. Aber dann haben manche keine Lust oder Kraft mehr. So ein Lehrerjob ist ein Ausweg. Aber es gibt auch andere Gründe. Einen Lehrerjob an einer Schule in einer angesagten Stadt anzunehmen, bedeutet eben auch, dass man dort integriert wird. Aus der Kleinstadt in eine Großstadt zu kommen, das kann attraktiv sein. Man nennt das „qiaomenzhuan“ [wörtlich in etwa: Mit einem Holzstück an die Tür klopfen und das Holzstück anschließend fallen lassen]. Also etwas zu tun, um etwas anderes zu erreichen.

CHINAHIRN: So ähnlich ist es ja auch für die Studierenden im Ausland. Das ist wohl auch mehr Mittel zum Zweck, um anschließend die Chancen innerhalb Chinas zu verbessern. Aber wie erleben chinesische Studierende ihre Auslandserfahrung? Wie schwer fällt es ihnen, in einer fremden Sprache zu studieren?

LI: Da muss man eigentlich zwischen den Fachgebieten unterscheiden. Im Prinzip lässt sich das zumindest in Frankreich in drei Gruppen aufteilen. Da gibt es einerseits Studierende der „harten Wissenschaften“ [Naturwissenschaften bzw. MINT-Fächer], andererseits die Studierenden an den Écoles de commerce und drittens die Studierenden der Geistes- und Humanwissenschaften. Die letzte Gruppe tut sich in der Regel am leichtesten, wenn es darum geht sich zu integrieren. Diese Studierenden sind schon aus fachlichen Gründen oft interessiert am Gastland. Sie wissen viel über die Kultur und haben häufig im Vorfeld die Sprache gelernt, so dass sie natürlich weniger Schwierigkeiten haben. Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften tun sich etwas schwerer, schaffen es aber dennoch häufig von ihrer Zeit im Ausland zu profitieren. Am schwersten haben es die Naturwissenschaftler. Wer in Frankreich Mathematik oder Chemie studieren will hat oft erst wenige Wochen vor der Abreise begonnen Französisch zu lernen. Viele wissen erstmal wenig über ihr Gastland. Und entsprechend schwer fällt es ihnen sich einzuleben. Dazu kommt häufig Enttäuschung über die Universitäten vor Ort. Manche der Befragten haben sich regelrecht bei mir ausgeheult. Sie sagen dann beispielsweise in Frankreich funktioniere nichts. Das Studium sei wenig effektiv. Sie hätten sich mehr Unterstützung erwartet, zum Beispiel wenn es um das Publizieren wissenschaftlicher Artikel geht. In China sei es einfach leichter. Man könne viel schneller publizieren. Die französischen Profs seien da einfach zu langsam. Sie täten zu wenig.

CHINAHIRN: Woher kommt dieser Frust insbesondere in diesen Fachbereichen?

LI: Es sind vor allem falsche Vorstellungen und mangelndes Wissen über das Gastland. Man vergleicht beispielweise das Labor an der französischen Uni mit dem Labor an den chinesischen Eliteunis. Dabei wird vergessen, dass es in China höchstens eine Handvoll Universitäten gibt, die über exzellent ausgestattete Labore verfügen. Und an diese Unis kommen nur die allerbesten. Wer das in China nicht geschafft hat darf nicht von einer französischen Uni erwarten, dass sie ihm bietet, was die beste chinesische Uni zu bieten hat. Außerdem gibt es natürlich die Sprachprobleme. Und nicht zu vergessen die ideologische Sichtweisen, die aufeinanderprallen. Ich hatte eine Studentin, die sehr enttäuscht von Frankreich war. Sie hat mir gesagt die Franzosen seien so stolz auf ihre Freiheiten. Als sie einmal damit konfrontiert wurde, dass China eine Diktatur sei, habe sie erwidert: „Ihr Franzosen liebt Eure Freiheit so sehr. Seht Ihr nicht, dass Ihr ein Land ohne Zukunft seid?“ Die Franzosen könnten nur demonstrieren, aber sie übersähen, dass China sie überholt glaubte sie. Das zeigt wenig Verständnis für die französischen Werte.

CHINAHIRN: Und wie haben Sie das selbst erlebt? Sie haben schließlich auch einen Teil Ihres Studiums in Frankreich absolviert?

LI: Für mich war vieles leichter. Ich hatte schon vorher Französisch gelernt und war generell besser vorbereitet. Ich hatte viel über Frankreich gelesen. Aber ich komme andererseits aus einer Familie, in der niemand vor mir China je verlassen hat. Ehrlichgesagt hatte ich noch nie Kritik an China oder der Regierung gehört. Das gab es zuhause nicht. Und auch nicht anderswo in meinem Umfeld. Als ich begann Französisch zu lernen hatten wir verschiedene französische Lehrer und Lehrerinnen an unserer Uni. Sie haben in China wohl so eine Art Selbstzensur betrieben denn sie haben nie mit uns über solche Dinge gesprochen. Aber ich weiß noch, wie ich einmal eine junge Französin, die uns unterrichtete, fragte: “Was denkt man eigentlich in Frankreich über Hu Jintao, der damals noch Staatspräsident war?” Und sie antwortet: “Er ist ein Diktator”. Das Wort kannte ich überhaupt nicht und musste es erst im Wörterbuch nachschlagen. Als ich es fand war ich erschrocken. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Auch als ich dann nach Frankreich kam, musste ich mich erstmal an den kritischen Ton in den Medien gewöhnen. Aber man kann lernen damit umzugehen und man lernt andere Sichtweisen kennen. Für viele Studierende ist das aber erstmal ein Schock. Es fällt ihnen dann schwer Sympathie für das Gastland zu entwickeln.

CHINAHIRN: Das ist erstaunlich, wo doch Frankreich in China einen guten Ruf genießt. Woher kommt eigentlich das besondere Interesse an einem Studium speziell in Frankreich und auch in Deutschland? In Europa ist nur Großbritannien noch beliebter als Studienland.

LI: Meine Studien haben sich auf Frankreich beschränkt. Aber ein wenig lässt sich vielleicht doch erkennen, woran es liegt, dass außer Frankreich auch Deutschland beliebt ist. Unter den von mir Befragten, die eher unzufrieden mit Frankreich waren, gab es die Meinung in Deutschland seien die Universitäten besser als in Frankreich. In einem Fall war ein Befragter eher zufällig in Frankreich gelandet. Es hieß „ich hatte mich auf Deutschland und Frankreich beworben. Eigentlich wäre ich lieber nach Deutschland gegangen, aber die Franzosen haben schneller reagiert. Die Zusage kam zuerst also ging ich nach Frankreich.“. Auch die unzufriedene Naturwissenschaftlerin, die ich vorhin erwähnte, war überzeugt, in Deutschland hätten die Unis wohlmöglich bessere Labore mit modernerer Ausstattung. Aber noch etwas anderes ist wichtig. Das chinesische Konzept „liuxue“ [im Ausland studieren] ist für die chinesische Mittelklasse erst in etwa seit den 2000ern zugänglich. Und es ist ein Prozess, der auf Mikro- und auf Makroebene stattfindet. Die Makroebene, das ist was die Staaten dazu beitragen. Die Mikroebene ist der gesellschaftliche Anteil oder der Eigenanteil. Auf Makroebene wird viel getan. Es gibt alle möglichen Programme auf beiden Seiten. Das heißt einerseits seitens der chinesischen Regierung, die ein Studium im Ausland unterstützt, aber auch im jeweiligen Gastland. Frankreich hat eine entsprechende Politik, die es für ausländische Studierende attraktiv macht. USA und Großbritannien, das sind Länder, in denen das Studium so teuer ist, dass es nur für wenige in Frage kommt. In Frankreich und Deutschland studiert überwiegend die chinesische Mittelschicht. Das ist ein entscheidender Faktor.

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