OLD CHINA HANDS I Oliver Radtke – bald für die Böll-Stiftung in Beijing

China Hands wurden im 19. Jahrhundert die wenigen Ausländer genannt, die sich in China auskannten, dessen Sprache und Kultur verstanden- oder zumindest so taten. Später wurden daraus Old China Hands, Leute mit 20 oder von mehr Jahren Erfahrung im Reich der Mitte. Es gibt aber auch zunehmend junge Leute, die sich intensiv mit China beschäftigen, die aber oft nicht zu Wort kommen. Deshalb werde ich neben Old China Hands auch Young China Hands vorstellen – auch wenn Letzteres per definitionem ein Widerspruch ist. Heute wird eine Young China Hand vorgestellt: Oliver Radtke (45).

Dieses Porträt erschien zuerst in der neuen Serie „Hirns Köpfe“ auf der Homepage von China Netzwerk Baden-Württemberg (CNBW). Das CNBW ist eine Plattform für Politik. Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, die zu einem besseren Verständnis insbesondere zwischen Baden-Württemberg und China beitragen möchte. Mehr unter: https://china-bw.net/de/cnbw

Derzeit ist Oliver Radtke noch in Berlin. Seit Anfang März lernt er dort seinen neuen Arbeitgeber kennen – die Heinrich Böll Stiftung. Aber sein Ziel ist Beijing. Dort soll er das Büro der den Grünen nahestehenden Parteistiftung leiten. Wann das genau sein wird, weiß er noch nicht. „Im Sommer“, sagt er vage. Es sei halt viel Papierkram zu erledigen. Dabei hat Radtke im Umgang mit China und seinen Behörden viel Erfahrung. Über zehn Jahre lang war er Leiter des China-Programms der Robert Bosch Stiftung. Er weiß, wie man mit Chinesen verhandelt. Er weiß, was Geduld auf Chinesisch heißt, wörtlich und im übertragenen Sinne.

Schon früh beschäftigte er sich mit der chinesischen Sprache. In seiner kurzen Krefelder Gymnasialzeit gab es eine China AG. „Wir waren eine kleine Gruppe. Das hat damals richtig Spaß gemacht.“ Krefeld war allerdings nur ein „niederrheinisches Intermezzo“, so Radtkes Einordnung. Den Großteil seiner Jugend verbrachte er in Tübingen, wohin er als Dreijähriger mit seinem Vater zog. Grundschule, erst Kepler-Gymnasium, dann Geschwister-Scholl-Schule waren seine lehrreichen Stationen in der Universitätsstadt. Nach dem Zivildienst auf einer allgemeinchirurgischen Station und als Transplantathelfer kam er wieder mit China in Berührung, als er in der Klinik am Steigerwald in Gerolzhofen in die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) eintauchte. „Aber die chinesische Sprache inter­essierte mich mehr als die Medizin“, sagte er. Und er entschloss sich, Sinologie zu studieren. Nur wo? Akribisch nahm er die Institute an den deutschen Hochschulen unter die Lupe – und entschied sich für Heidelberg. In der dortigen Sinologie wird das Moderne China gelehrt, und es gibt dort – so Radtke – die beste Sprachausbildung.

Vor Studienbeginn muss man dort erst einmal ein einjähriges Propädeutikum absolvieren. Das hieß für ihn vor allem pauken, pauken, pauken. 20 bis 25 Stunden Unterricht pro Woche. 2000 – kurz nach Studienbeginn – war Radtke dann zum ersten Mal in China. Er reiste durch das Land, sprach mit den Leuten – und sie verstanden ihn. „Das hat mich geradezu beflügelt, das Sprachstudium mit dem nötigen Ernst und Respekt weiter zu betreiben.“ Aus der Zeit stammt ein weiteres Faible: Das Sammeln von Chinglish-Ausdrücken. Das sind unfreiwillig komische Übersetzungen von chinesischen Formulierungen ins Englische. Sie sind auf Speisekarten, Reklameschildern und in Behördentexten zu finden. Radtke präsentierte und kommentierte diese witzigen Ausdrücke auf einem eigenen Blog und später in drei Büchlein („Chinglish – Found in Translation“, „More Chinglish: Speaking in Tongues“ und „Plain Chinglish“). Seinen Hang zum Skurrilen zeigt sich auch in einer weiteren Sammelleidenschaft: Comics aus Zeiten der Kulturrevolution. Wann immer er welche fand, kaufte er sie, übersetzte und digitalisierte sie auf einer Homepage. „Meine Spielwiesen“ nennt er diese Aktivitäten abseits des Studiums, das er 2006 mit dem Magister abschloss.

Es folgte eine Phase als TV-Journalist bei einem chinesischsprachigen Sender in Singapur, bevor er von 2008 bis 2010 für das Projekt der Bundesregierung „Deutschland China – gemeinsam in Bewegung“ vor Ort in China arbeitete. Damals nahm Berlin viel Geld in die Hand, um durch viele Veranstaltungen für ein besseres Verständnis zwischen den beiden Ländern in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu werben. Das Projekt endete mit der Expo 2010 in Shanghai.

Danach begann Oliver Radtke in Heidelberg zu promovieren, als ein Anruf aus Stuttgart kam. Die Robert Bosch Stiftung suchte einen Nachfolger für Marc Bermann als Leiter des China-Programms. Radtke musste nicht lange nachdenken: „Das ist eine Chance, die so schnell nicht wieder kommt.“ Im April 2011 fing er bei der Robert Bosch Stiftung an. Er organisierte viele Austauschprogramme – für Richter, Anwältinnen, Journalisten, Lektorinnen, NGOs und Kulturschaffende, in den letzten Jahren auch über Chinas Grenzen hinaus in und mit Südkorea, Thailand, Vietnam und Indonesien. Zuletzt war er zusätzlich drei Jahre lang deutscher Generalsekretär des Deutsch-Chinesischen Dialogforums, einem Beratergremium für die Regierungen beider Länder. „Ich habe eine große Bandbreite von Akteuren kennengelernt und ein sehr vielfältiges China-Bild bekommen“, resümiert Radtke seine Bosch-Zeit, die Anfang dieses Jahres endete. Bereits 2019 stellte sich die Robert Bosch Stiftung neu auf. Sie orientierte sich jetzt an Mega-Themen, nicht mehr an Regionen. Das China-Programm wurde eingestellt. Radtke widmete sich in der Stiftung noch eine kurze Phase lang dem Klimaschutz, ehe er sich verabschiedete. Aber er schied nicht im Groll: „Ich bin der Stiftung sehr dankbar. Es war eine extrem fordernde, kreative und bereichernde Zeit. Ich bin von einem China-Spezialisten zu einem echten Völkerverständiger gereift.“

Und dann sagt der nachdenkliche und stets die Worte abwägende Radtke noch einen wichtigen Satz: „Ich bin zu einem simplifizierten China-Bild nicht mehr fähig.“ Radtke plädiert für den Dialog mit China und ein differenziertes China-Bild. Gute Voraussetzungen für seinen neuen Job bei der Heinrich Böll Stiftung in Beijing.

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