Er kommt, er kommt nicht, er kommt. Lange wurde gerätselt, ob Xi Jinping am 1. Juli – exakt 25 Jahre nach der Übergabe der britischen Kronkolonie an die Volksrepublik – nach Hongkong reisen wird. Doch dann stieg er mit Gattin Peng Liyuan im silbernen Qipao (ein traditionelles längeres tailliertes Kleid)) am Nachmittag des 30. Juni im gigantischen Bahnhof West Kowloon aus einem Schnellzug. Es war nach 893 Tagen seine erste Reise außerhalb der Volksrepublik oder – wie man in Hongkong sagt – Mainland China seit Beginn der Pandemie. Für ein paar Stunden weilte er an diesem Tag in Hongkong, sprach mit ausgewählten Honoratioren vor allem aus der Wirtschaft, besuchte den Science Park und speiste mit der scheidenden Regierungschefin Carrie Lam und deren Nachfolger John Lee. Dann fuhr er wieder über die Grenze ins 15 Minuten entfernte Shenzhen zurück. Offenbar war ihm, der stets eine Maske trug, die Corona-Situation in Hongkong nicht ganz geheuer. Deshalb übernachtete er lieber in Shenzhen im Gästehaus der Regierung. Von dort fuhr er am nächsten Tag, dem 1. Juli, wieder mit dem Zug nach Hongkong, wo er um 9.55 Uhr eintraf und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ins Convention and Exhibition Center kutschiert wurde. Dort wurde die neue 21köpfige Hongkonger Regierung von John Lee vereidigt. Sie ist nicht demokratisch legitimiert, sondern wurde von Beijing wohlgesonnenen Personen bestimmt. Eine Demokratie gab es weder zu Kolonialzeiten in Hongkong und erst recht nicht unter Beijing. Zwar ist im britisch-chinesischen Übernahmevertrag von „one country, two systems“ die Rede, aber das wird von beiden Seiten höchst unterschiedlich interpretiert. Für Beijing heißt das vor allem, dass Hongkong während der 50jährigen Übergangszeit (bis 2047) sein kapitalistisches System beibehalten darf. Hongkong hat eine der freiesten Wirtschaften der Welt. Aber politische Freiheiten im westlichen Sinne sind aus chinesischer Sicht nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Sie werden zunehmend eingeschränkt. Siehe Pressefreiheit, siehe die Sicherheitsgesetze. Trotzdem pries Xi Jinping in seiner Rede nach der Vereidigung zur Verwunderung westlicher Beobachter – stellvertretend sei auf die Tweets von Boris Johnson und US-Außenminister Antony Blinken verwiesen – das „One-Country, Two-Systems-Modell“. Nicht Demokraten, sondern Patrioten sollen nach Ansicht Xis die Sonderverwaltungszone führen. Xi vor den rund 1300 Gästen: „Keeping political power in the hands of patriots is a political role commonly praised in the world.” In seiner 22minütigen Rede nahm Xi die neue Regierung Lee in die Pflicht. Er gab ihr sozusagen Hausaufgaben mit, indem er die aktuellen, meist sozialen Probleme Hongkongs treffend und deutlich beschrieb. Xi: „At present, what the people of Hong Kong desire the most are better life, a bigger apartment, more business start-up opportunities, better education for kids and better elderly care.” Und ein paar Sätze weiter sagte er: „In particular, we should care about the young people.“ Sie bilden das Rückgrat der Protestbewegung, auch weil viele von ihnen kaum Perspektiven haben. Die neue Regierung ist also gefordert. Und John Lee scheint das verstanden zu haben. In seiner Rede, die er übrigens in Mandarin (nicht im Hongkong üblichen Kantonesisch) hielt, versprach er: „This government would tackle the problem of land and housing…and improve protection for the elderly and young children.“ In Beijing wird man aufmerksam verfolgen, ob und wie Lee die To-Do-Liste von Xi abarbeitet. Xi Jinping schaute – schließlich ist er ja oberster Befehlshaber – noch schnell für 35 Minuten in der Kaserne der Volksbefreiungsarmee vorbei, ehe er kurz nach 13 Uhr vom Bahnhof West Kowloon wieder zurück nach Mainland China fuhr. Hongkonger Schüler sangen zum Abschied den patriotischen Klassiker: „Wo he wo de zu guo“ (auf Englisch: „My Motherland and Me“).
Info:
Die Rede Xi Jinpings am 1. Juli: https://asia.nikkei.com/Politics/Full-text-of-Xi-speech-marking-25-years-since-Hong-Kong-s-return-to-China
Die Rede von John Lee am 1. Juli: https://www.info.gov.hk/gia/general/202207/01/P2022070100398.htm
Die Tweets von Boris Johnson: https://twitter.com/10DowningStreet/status/1542553806059208706 und Antony Blinken: https://twitter.com/SecBlinken/status/1542615429276995585
“The Economist” hat zum 1. Juli ein Essay und Video seiner China-Korrespondentin Sue-Lin Wong mit dem Titel „How China crushed Hong Kong“ veröffentlicht: Hier ist das Essay https://www.economist.com/interactive/essay/2022/07/01/how-hong-kong-became-a-police-state
Und hier das Video: https://www.economist.com/films/2022/06/30/how-china-crushed-hong-kong