Es gibt ja nicht so viele China-Experten in Deutschland. Die wenigen waren deshalb in den ersten Tagen dieser Woche im medialen Dauereinsatz. Zehn Interviews pro Tag waren für sie keine Seltenheit. Beliebte Fragen der aufgeregten Journalisten waren, ob sich die Proteste ausweiten werden, wie lange sie anhalten werden, und ob gar ein neues 1989 drohe? Hier eine subjektive Auswahl von Experten-Meinungen.
Mikko Huotari (Direktor des Mercator Institute for Chinese Studies/Merics) sah im Deutschlandfunk die Ursache für die Proteste in „einer schwelenden Unzufriedenheit, die sich im Wesentlichen aus dieser Zero-Covid-Strategie speist“. Huotari weiter: „Die Bevölkerung möchte wieder zurück zu einer Normalität.“ Auf den Vergleich zu 1989 angesprochen, sagte er, dass dieser „insofern stimmt, dass diese Proteste provinzübergreifend und über gesellschaftliche Schichten stattfinden“. Aber sie seien nicht vergleichbar mit der Präsenz und Dauer auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Huotari: „Davon sind wir weit entfernt. Die Zahlen gehen in die Tausende. Das war 1989 viel mehr.”
Auch David Goodman (Professor of Chinese Politics, University of Sydney) zieht in Asia Times den Vergleich zu 1989 und kommt zu dem Ergebnis: „While these protests are certainly serious challenges to authority, they should be kept in perspective. In particular, there’s no real parallel to those in Tiananmen Square in 1989. These are street protests where the demonstrators disperse after marching and protesting, and the main focus of the protests are the Covid restrictions rather than wider political principles. The main issue here is frustration not just with Covid restrictions but the inconsistent ways these measures are being implemented.”
Auch Eberhard Sandschneider (emeritierter Politik-Professor und nun bei Berlin Global Advisors) spricht im Deutschlandfunk von „Menschen, die verzweifelt sind“. Irgendwann komme der Punkt, wo die Menschen genug hätten. Er geht davon aus, dass es massive Bemühungen geben wird, diese Proteste zu unterbinden. Sandschneider: „Man kennt das Risiko, das hat man 1989 gesehen.“
Von weiteren Repressalien geht auch Christoph Steinhardt aus (assoziierter Professor am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien). Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte er: „Ich erwarte, dass die Angst vor Repressalien weitere Mobilisierungen wahrscheinlich weitgehend unterbinden wird. Wie es weitergeht, hängt von der Reaktion der Regierung ab.“ Es zeichne sich aber ab, dass die Strategie der Pandemiebekämpfung jetzt angepasst werde. Wenn das passiert, dürfte sich die Lage kurzfristig beruhigen. Steinhardt weiter: „Pragmatismus und ein gewisser Populismus auch ohne formale Demokratie gehörten seit 1978 eigentlich zu den größten Stärken der KP. Zurzeit sieht es so aus, als würde diese Stärke des Systems erodieren.“
Für Kristin Shi-Kupfer (Universität Trier) steht noch nicht fest, ob die Proteste sich nur gegen die Corona-Politik oder auch gegen das System wenden. Im ZDF sagte sie: „Wir hatten sicherlich Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen.“ Der Kern der Proteste seien die strikten Lockdown-Maßnahmen gewesen. Zwar gebe es eine wachsende Zahl in der Bevölkerung, die das politische System kritisiere, an einen Umsturz der chinesischen Führung glaubt sie allerdings nicht. Es gehe bei den Protesten eher darum, dass sich das bestehende System verbessern müsse. Sie hält es auch für möglich, dass die Proteste wieder aufflammen könnten, sollten die Menschen weiterhin den Eindruck haben, sie hätten “nicht genug Raum, um ihr Leben zu gestalten”. Im NDR sagte Shi-Kupfer, „dass es in der Covid-Politik Zeichen der Bewegung gibt. Einzelne Lockerungen, die schon länger angekündigt waren, werden jetzt teilweise weiter angekündigt“.
Ziemlich optimistisch äußert sich Helen Qiao (Chefökonomin für Greater China bei der Bank of America). Sie erwartet, dass die Proteste eine Beschleunigung des Ausstiegs aus der Null-Covid-Politik zur Folge haben werde: “Within this week or at the most by the end of next week we think that we’ll see top decision makers . . . coming out and talking about how and why [China] should relax Covid controls.”
Das relativierende Schlusswort hat Doris Fischer (Universität Würzburg). Sie schreibt auf Linkedin: “I would be cautious to come up with interpretations of what all this will mean for the short, medium or long-term of China. I am amazed and puzzled that some people pretend to know all the answers already. If anything it underlines that China is always complex and never only black or white.”