Ist es pietätlos, Erleichterung über den Tod eines kranken Angehörigen zu empfinden? Das fragte Anfang des Monats die chinesische Zeitung Nanfang Zhoumo (NFZM) in einem Artikel über den Umgang mit Alter und Tod in der chinesischen Gesellschaft. Manch ein Leser beantwortete die Frage in den Kommentaren mit “Ja“. Auch wenn Leser einräumten, dass es schwer für die Angehörigen sei, Alte und Kranke bis in den Tod zu pflegen und auch wenn sie Verständnis für das damit verbundene Leid der Familien hättten, es zeigte sich mal wieder: Pietät, insbesondere die von Kindern gegenüber ihren Eltern, bleibt wichtig in China. Ein Erbe des Konfuzianismus.
Hintergrund für den NFZM-Artikel ist ein in China nahezu tabuisiertes Thema: Die psychische Belastung derer, die ihre Angehörigen im Alter zuhause pflegen und bis in den Tod begleiten. An Hospizplätzen mangelt es in China. Zur häuslichen Altenpflege gibt es kaum Alternativen. Laut dem 2020 veröffentlichten Bericht des National Bureau of Statistics machten die über 60-Jährigen in China im Jahr 2019 18,1 Prozent der Bevölkerung aus. Gemäß den Angaben der National Health Commission of China (2019) litten 180 Millionen der Senioren in China an chronischen Krankheiten, um die 40 Millionen gelten als ganz oder teilweise behindert. Doch Alten- und Pflegeheime gibt es kaum. Laut einem Artikel im „Journal of Transnational Nursing“ konnten Chinas Hospize bis 2019 den Bedarf für kaum ein Prozent der Bevölkerung auf dem chinesischen Festland abdecken. Altenpflege und Sterbebegleitung liegen nach wie vor in den Händen der Angehörigen. Diese sind dafür weder medizinisch geschult noch psychologisch vorbereitet.
Bis in die 1980er Jahre gab es in China überhaupt keine staatlichen Strukturen zur Altenpflege und Sterbebegleitung. Und bis heute stellen chinesische Forscher fest, dass der Staat kaum in eine solche staatliche Versorgungsstruktur investiert, sondern sich auf das traditionelle Familienmodell verlässt, in dem sich die junge Generation um die alte Generation kümmert. Doch was einst verlässlich schien, wird im modernen China für viele Familien zur Zerreißprobe. Und doch schweigen viele Angehörige. Über das eigene Leid zu schweigen, welches die häusliche Pflege mit sich bringt, ist nämlich eine Frage der Pietät. Und der Gedanke, dass Tod gleichfalls Erlösung von Leid (für den Sterbenden, aber auch für den Sterbebegleitenden) sein kann, findet in China noch wenig Akzeptanz. So erleben viele Familien den Sterbeprozess alternder Angehöriger als psychische, körperliche und oft auch finanzielle Herausforderung, mit der sie im Wesentlichen auf sich allein gestellt sind.
Auch für Konfuzius war die Sache wohl eindeutig. Die kindliche Pietät gehört zum Konfuzianismus wie die Nächstenliebe zum Christentum. Auch wenn die kindliche Pietät „孝 (xiao)“ nicht zu den zentralen Grundprinzipien des Konfuzianismus gehört, ist sie eine Voraussetzung für einen der wichtigsten Grundsätze überhaupt: ren (仁) nennt es Konfuzius, auf den auch das Schriftzeichen zurückgeht, welches im linken Teil das Zeichen für Mensch (ren) zeigt und im rechten Teil das Zeichen für „zwei“. Wenn mindestens zwei Menschen aufeinandertreffen, kann nämlich überhaupt erst 仁 (ren) entstehen. Häufig wird das Zeichen als „Herzensgüte“, „Wohlwollen“ oder „Humanität“ übersetzt. Es ist das, was uns für Konfuzius erst zum Menschen macht. Zwischenmenschliche Beziehungen werden bei Konfuzius genauestens geregelt. Die Beziehung vom Vater zum Sohn (stellvertretend für die Beziehung von Kindern zu Eltern) hat dabei besonderes Gewicht. Und so ist es im konfuzianistischen Sinne die oberste Pflicht von Kindern, ihren Eltern Respekt zu erweisen. Das beinhaltet Gehorsam, Loyalität und ein ständiges Bestreben, den Eltern keinen Kummer zu breiten und bestenfalls der Familie zu Ansehen und Ehre zu verhelfen. Ein Leben lang. Genau genommen sogar über den Tod hinaus. Diese konfuzianistische Tradition prägt die chinesische Gesellschaft bis heute. Doch seit Konfuzius‘ Zeiten hat sich in China einiges verändert: Nicht nur äußerlich im Zuge der allgemeinen Modernisierung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, sondern auch innerhalb der Familien.
Die Familienstruktur in China hat sich nahezu ins Gegenteil verkehrt: vom Modell der Großfamilie, des Clans, zur Ein-Kind-Familie. Zugleich verlassen die Familien das Land und leben in einer mehr und mehr urbanen Gesellschaft. Das alles geschieht in rasantem Tempo. Würde Konfuzius im heutigen China leben, vielleicht würde er andere Anforderungen an seine Landsleute stellen.
Ein durchaus Konfuzius-konformes Gefühl der Verpflichtung gegenüber den Eltern aber besteht bis heute für die meisten Chinesen. Das trifft vor allem fürs Alter zu. Selbstverständlich gilt es dann, die Eltern finanziell zu unterstützen, sich um sie zu kümmern und sie eben auch zu pflegen, wenn sie bettlägerig oder dement sind. Diese Verpflichtung besteht zum Teil aus Mangel an Alternativen. Doch gilt sie auch deshalb, weil die Gesellschaft es schlicht erwartet. Auch Eltern bringen Opfer für ihre Kinder. Ein Kind aufzuziehen, zumal im heutigen China, ist eine Herausforderung, die großen persönlichen Einsatz der Eltern verlangt. Der Druck ist enorm. Die Erwartungen sind hoch. Für Eltern und Kinder. Trotz Lockerung der Ein-Kind-Politik überwiegt noch immer das Modell der Ein-Kind-Familie. Dafür gibt es viele Gründe. Oft aber ist bereits ein Kind für viele die Grenze der Belastbarkeit. Gerade wenn man damit rechnen muss, die eigenen Eltern und häufig auch noch die des Ehepartners im Alter pflegen zu müssen. Vor allem Frauen trifft das besonders hart. Häufig sind sie es, die solche unbezahlten Aufgaben in der Familie übernehmen. Und das nicht selten neben dem Beruf. Wobei die Folgen jahrzehntelanger Ein-Kind-Politik die Lage zusätzlich erschweren: Die Eltern von heute sind schließlich die Einzelkinder von gestern. Und wo früher in kinderreichen Großfamilien die Aufgaben auf mehrere Geschwister verteilt waren, tragen Chinas nun erwachsene Einzelkinder die Last allein. Doch nach allem, was sie ihren Eltern verdanken, können sie es sich nicht erlauben, unter der Last auch nur zu stöhnen.
Wer sich beklagt oder gar – wie in dem oben genannten Artikel zitiert – öffentlich zugibt, nach dem Tod eines schwerkranken Elternteils auch etwas wie Erleichterung zu verspüren, muss mit einem Shitstorm rechnen. So etwas sei in China nicht sagbar, stellt Nanfang Zhoumo fest, es sei kulturell inakzeptabel. Wer so etwas sagt, so der Vorwurf, dem mangele es an 孝 (xiao) und 仁 (ren), also an Pietät und Mitgefühl. „Ohne 孝 (xiao) und 仁 (ren), sind wir dann überhaupt noch Menschen?“ fragt Nanfang Zhoumo. Und manche Internetnutzer würden das wohl verneinen.
Insofern kommt zu der Belastung in der häuslichen Pflege häufig auch noch ein Gefühl der Scham, wenn man den Ansprüchen nicht genügt. Die psychische Belastung für Angehörige, berichtet die NFZM, ist kaum zu unterschätzen. So beschreibt die Zeitung einem Fall, wo die Familie alles aufgab, um der kranken Mutter eine Behandlung zu ermöglichen. Sogar das Eigenheim wurde verkauft, um die teure Behandlung zu bezahlen. Kaum hatte sich die Mutter aber körperlich erholt, ging es geistig bergab. Am Ende war die alte Dame so verwirrt, dass sie den öffentlichen Hausflur mit Fäkalien beschmierte. Sie lief immer wieder aus der Wohnung fort. Nachbarn beschwerten sich über den Gestank, manche zogen gar um. Hilfsangebote gibt es in solchen Fällen kaum. Aber es könnte zumindest psychologisch entlasten, überhaupt über das eigene Erleben der Situation zu sprechen. Zum Beispiel mit Freunden, aber eben auch in den sozialen Netzwerken, wo man sich mit Menschen austauschen könnte, die Ähnliches erleben. Doch das ist offenbar schwierig.
In einem Fachartikel über den chinesischen Umgang mit Tod und Alter heißt es: „People in southwestern China are still passively accepting end-of-life care.” Und weiter: „The lack of full acceptance of end-of-life care is not only limited to the obstacles of hospice palliative care resources but also stemmed from the conflict between the values of traditional social culture and hospice palliative care, which directly leads to the slow development since its introduction into China in the 1980s.”
Die traditionelle Kultur Chinas, die Gewichtung des Lebens und mangelnde Forschung über den Tod führten in China dazu, dass der Tod gefürchtet und rational nicht verstanden würde. Daher rühre auch die Tabuisierung des Themas. Auch hier hat der Konfuzianismus seinen Anteil. Konfuzius nämlich verweigerte einst die Antwort auf die Frage eines Schülers, was uns nach dem Tod erwarte. „Wir wissen nichts über das Leben“, sprach Konfuzius frei übersetzt, „wie können wir da wissen, was nach dem Leben geschieht?“
Während viele der Weltreligionen mit der einen oder anderen Version von Himmel oder Paradies locken, ist China überwiegend anderen kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Und das in unterschiedlichem Maße: Buddhisten streben nach der Wiedergeburt und dem Eintritt in das Nirvana, Daoisten hoffen auf ewiges Leben. Doch Konfuzius lässt sich zu keinem Versprechen hinreißen. Vielleicht war er besonders ehrlich. Es ist bis heute Stand der Wissenschaft, dass wir keine Antwort auf die Frage haben, was nach dem Tod geschieht. Irgendeine Hoffnung aber scheint der Mensch zu brauchen, um mit dem Lebensende umgehen zu können.
Vielleicht kann China künftig das ein oder andere Problem der häuslichen Pflege und Sterbebegleitung mit künstlicher Intelligenz lösen. Vielleicht findet Chinas Wissenschaft Antworten auf offene Fragen. Vielleicht aber lernt die Gesellschaft auch aus sich heraus einen neuen Umgang mit dem Tod. Wenn heute in den sozialen Medien Menschen ihre gemischten Gefühle im Umgang mit häuslicher Sterbebegleitung eingestehen, könnte das immerhin ein Anfang sein. Trotz der Shitstormgefahr – den einen oder anderen verständnisvollen Kommentar gibt es jedenfalls auch.