China Hands wurden im 19. Jahrhundert die wenigen Ausländer genannt, die sich in China auskannten, dessen Sprache und Kultur verstanden- oder zumindest so taten. Später wurden daraus Old China Hands, Leute mit 20 oder von mehr Jahren Erfahrung im Reich der Mitte. Es gibt aber auch zunehmend junge Leute, die sich intensiv mit China beschäftigen, die aber oft nicht zu Wort kommen. Deshalb werde ich neben Old China Hands auch Young China Hands vorstellen – auch wenn Letzteres per definitionem ein Widerspruch ist. Heute wird eine Old China Hand vorgestellt: Bernhard Wessling (72)
Es gibt Expats in China, die wollen unter ihresgleichen bleiben. Und es gibt Expats, die wollen sich unters chinesische Volk mischen, denn schließlich wollen sie das Land verstehen lernen. Zur letzteren Minderheit zählt Bernhard Wessling, ein promovierter Chemiker, Erfinder und Unternehmer. Er kam 2005 nach Shenzhen, weil er den Vertrieb seines Unternehmens Ormecon Chemie, das lötfähige Endoberflächen für Leiterplatten herstellte, auf Vordermann bringen wollte und musste. Da die Mehrheit seiner Kunden im Süden des Landes saß, zog er in eine „Kleinstadt“ nahe Guangzhou. Doch lange hielt er es dort nicht aus. Die Verkehrsanbindung unter anderem war schlecht. Und so zog er Ende 2005 nach Shenzhen um. Er nahm sich eine kleine Wohnung im schönen Stadtteil Shekou direkt am Meer. Eigentlich wollte er nur ein paar Monate bleiben, dann mussten es ein Jahr, dann drei Jahre werden. Es wurden schließlich 13 Jahre, immer mit Wohnsitz Shenzhen. Von Anfang an war ihm klar: „Ich möchte mich nicht mit Ausländern, sondern möglichst ausschließlich mit Chinesen umgeben, also in China eintauchen.“ Aber wie macht man das, wenn man kein Chinesisch spricht? Man spielt über die Bande Fußball. „Ich bin ein Fußball-Verrückter,“ sagt Wessling. Er schwang sich aufs Fahrrad und radelte zum Vier-Seen-Park, wo mehrere Freizeitteams kickten. Als Zaungast sah er, dass sich der Torhüter eines Teams in dieser Rolle unwohl fühlte. Er stellte sich hinter sein Tor und signalisierte ihm mit Händen und Füßen, dass er sich gerne für ihn ins Tor stelln würde. Dieser räumte bereitwillig das Feld. Wessling wechselte sich sozusagen selber ein und hielt seinen Kasten ziemlich sauber. Die chinesischen Mitspieler waren begeistert von ihrem neuen Mitspieler, und fortan war Wessling Torhüter der Lao Niu – der alten Bullen. Ihn nannten sie Lao Wei, alter Wächter. Er war mit Abstand der älteste in der Truppe von jungen Mitspielern, die fast alle in High-Tech-Unternehmen arbeiteten. Nach den sonntäglichen Spielen ging man meist Essen und Trinken. Irgendwann riet man ihm dort: „Du musst Chinesisch lernen.“ Er kaufte sich Bücher, Computerprogramme und CDs fürs Selbststudium, sah aber schnell ein, dass er einen Lehrer oder eine Lehrerin brauchte. Inzwischen hält er Reden aus dem Stegreif und kann sie mit Witzen garnieren. Diese und andere Anekdoten stehen in dem neuen Buch von Bernhard Wessling mit dem Titel „Mein Sprung ins kalte Wasser – Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten.“ Gleich zu Beginn definiert er seinen potentiellen Leserkreis: „Für alle diejenigen, die nicht immer nur das Gleiche über China hören und lesen wollen.“ Diesem selbst auferlegten Anspruch wird Wessling mehr als gerecht. Sein Buch ist kein Ratgeber für China-Reisende und auch keine Gebrauchsanweisung für Manager, von denen es inzwischen Dutzende gibt. Dieses Buch ist wertvoller und inhaltsreicher. Hier erzählt jemand über seinen Alltag in China, ob im Krankenhaus oder beim Zahnarzt, ob beim Essen oder beim Verhandeln und Lösen der schweren Probleme seiner Industriekunden, ob in der Natur (Wessling ist begeisterter Kranichforscher und Vogelbeobachter) oder im Verkehr einer 20-Millionen-Stadt, ob auf seinen zahlreichen Reisen zu Kunden oder bei späteren Ausflügen in touristisch kaum erschlossene Gegenden Chinas. Ende Dezember 2017 verließ Wessling Shenzhen und China – natürlich mit einem Abschiedsspiel zwischen den Alten Bullen, für die er all die Jahre sonntags auflief, und den Tian Long, den Himmelsdrachen, für die er samstags spielte. Das Ergebnis war unwichtig. Viel wichtiger war die Erkenntnis, die Wessling nach 13 Jahren China mit ins heimatliche Bargteheide vor den Toren Hamburgs mitnahm: „Dieser Aufenthalt war ein unbezahlbarer Gewinn für mein Leben.“
Info:
Bernhard Wessling: Mein Sprung ins kalte Wasser – Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten, 401 Seiten, Verlag am Park, 24 Euro
Mehr dazu und über Bernhard Wessling auf seiner Homepage: www.bernhard-wessling.com