Wanhua Chen I Prüfungstage – eine Kolumne von Anonymus

Ein Aufschrei ging am vergangenen Wochenende durch die chinesischen sozialen Medien. Am 15. und 16. Juni war in diesem Jahr die alles entscheidende Aufnahmeprüfung (Zhongkao 中考) für die gymnasiale Oberstufe. In Shanghai kämpften 120 000 Prüflinge der 9. Klasse um die rund 65 000 Plätze. Von dem Zahlenverhältnis her ist Zhongkao sogar schwerer als die berüchtigte Gaokao, die Hochschulaufnahme-Prüfung. Es gibt bis zu acht Prüfungsfächer an zwei Tagen. Der Samstag begann traditionell mit Chinesisch. 100 Minuten lang dauerte die Prüfung. 150 Punkte waren zu vergeben (bzw. zu gewinnen). Davon gingen allein 60 Punkte an ein Essay, das rund 600 Worte enthalten sollte. 

Ein chinesisches Essay ist ein Festbestandteil im Prüfungssystem. Das hat sich seit der Wiedereinführung der Aufnahmeprüfung im Jahr 1978 nicht geändert.  Über die genaue Aufgabenstellung des Essays wird jedes Jahr intensiv spekuliert. Am Tag der Prüfung ist es das Gesprächsthema Nummer eins in der Stadt.

Für die Prüfungsinhalte von Zhongkao ist die jeweilige Provinz selbst verantwortlich. (Shanghai und Peking haben diese Autonomie auch für die Gaokao). Bei den Essay-Aufgaben fiel Shanghai in den letzten Jahren nicht sonderlich auf: „Unerwartet, wirklich unerwartet“ (2016), „Interessanter als es aussieht“ (2021) oder „Das ist erst der Anfang“ (2022) waren die vorgegebenen Titel. Was auffällt, ist lediglich die weitestgehende Abwesenheit von politischer oder ideologischer Einfärbung, so auch letzte Woche.

Dennoch fiel die Aufgabe diesmal mit dem nebulösen Titel „Ich bin auch ein Wassersammler“ (我也是个取水人) ungewohnt schwer aus. Hier die Übersetzung der Aufgabenbeschreibung: 

„Wenn die Welt ein formloses Wasserbecken ist, so nutzt jeder seine eigene Art, um dranzukommen und es zu verstehen. Persönliches Wachstum bedeutet, seinen Horizont zu erweitern, seine Talente zu steigern oder Muster zu entdecken, indem man immer wieder unbekannte Dinge erforscht. Gleichzeitig kann man einen passenderen Weg finden, „Wasser zu entnehmen“. Bitte schreiben Sie einen Artikel von etwa 600 Wörtern mit der Überschrift „Ich bin auch ein Wassersammler“.

„So ein Essay, dazu noch unter großem Zeitdruck, was will man von den armen 15-Jährigen?“ empörten sich zahlreiche Eltern im Netz darüber. Andere hinterfragten die Aufgabenstellung selbst, suchten nach Fehlern in der Formulierung und Schreibweise. Die Prüflinge selbst wurden in den meisten betroffenen Familien von dem „Sturm im Netz“ abgeschirmt. Denn nach Chinesisch, Physik und Chemie am ersten Tag folgten am Sonntag noch Englisch, Mathe sowie „Moral, Ethik und Recht“. Die höchstmögliche Konzentration ist also gefragt. Die volle Punktzahl bei Zhongkao in Shanghai beträgt 750. Die Notenschwelle der Top-Gymnasien der Stadt lag in der Vergangenheit bei 710. Wer dort hineinkommt, hat zwar keine stressfreie Oberstufe. Ganz im Gegenteil. Ein Uni-Studienplatz drei Jahre später ist aber nahezu sicher.  

In China selbst gab es schon lange Kritik darüber, dass zwei Prüfungstage (Gaokao dauert drei Tage) geradezu über ein ganzes Leben entscheiden. Als Reaktion darauf wurde das System graduell modifiziert. Aktuell werden in Shanghai 75 Punkte von den Nebenfächern wie Geschichte oder Sport von den Leistungen der vergangenen drei Schuljahre bestimmt. Mit nur zehn Prozent von der gesamten Punkteausbeute ist das System nach wie vor dominiert von den zwei Alles-oder-Nichts Prüfungstagen am Ende der Mittelstufe.

Auf die Frage, ob es nicht besser wäre, den Leistungen im schulischen Alltag mehr Gewicht beizumessen, bekommt man als Antwort regelmäßig zu hören: das würde doch garantiert zu einer Noteninflation verführen. Denn die Schulen befinden sich untereinander im harten Wettbewerb um „升学率“, also ”Admission rate“. Jede Schule würde demnach ihren Schützlingen beste Alltagsnoten ausstellen. Am Ende wäre die angestrebte „mehr Gerechtigkeit“ doch wieder aufgehoben. 

Da fühlt man sich an die Diskussion hierzulande über das Nord-Süd-Gefälle der „Abi-Wertigkeit“ erinnert …  

*Wer sich hinter dem Anonymus verbirgt, und warum dieser seine Kolumne Wanhua Chen nennt, erfahren Sie in der nächsten Ausgabe von CHINAHIRN.

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