GESELLSCHAFT I Ein neuer Lebensmittelskandal

Gibt es investigativen Journalimus in China? Selten. Am 2. Juli erschien seit langem mal wieder ein solches Glanzstück. In den Beijing News (xin jing bao, 新京报) vom 2. Juli berichtete ein Investigativ-Team um Han Futao über einen neuen chinesischen Lebensmittelskandal. Die Reporter zeichnen in dem Bericht sehr detailliert den Weg eines Tanklasters der staatlichen Sinograin-Gruppe nach. Sie beobachteten, wie er am 21. Mai um 10 Uhr morgens auf das Gelände der Sanhe Hopefull Grain and Oil Group in Yanjiao (Provinz Hebei) fuhr, dort seinen Tank mit Sojaöl füllte und um 11 Uhr vom Hofe fuhr. Das ist zunächst nichts Verwerfliches. Doch drei Tage zuvor hatte just dieser Tanklastwagen eine ganz andere Ladung von Ningxia nach Qinhuangdao (Hebei) transportiert – nämlich aus Kohle gewonnenes Öl. Dazwischen – und das ist der Skandal – wurde der Lkw nicht gereinigt.

Ein Einzelfall? Mitnichten, schreibt Beijing News und zitiert einen Fahrer, der sagt, dass dieses Verhalten in der Fernfahrerbranche ein offenes Geheimnis sei. Die Transportunternehmen wollten die Reinigung sparen. Diese kostet zwischen 300 und 900 Yuan (38 bis 114 Euro). 

China hat damit 16 Jahre nach dem verseuchten Milchpulver erneut einen Lebensmittelskandal. Die Aufregung war und ist entsprechend groß. Zunächst stellten sich viele die Frage, warum der Bericht überhaupt veröffentlicht werden durfte. Die Beijing News – wie fast alle Medien staatlich – waren bis Anfang der 2010er Jahre eine durchaus kritische Zeitung. Aber in den Folgejahren passte sich das Blatt der lammfrommen Berichterstattung an. Erst mit dem Artikel vom 2. Juli meldete sich Beijing News als kritisches Sprachrohr zurück. „A Rare Exposé“ lobte David Bandurski in einem Beitrag für das China Media Project, das in Hongkong Chinas Medienszene kritisch beobachtet. Aber eine Erklärung, warum die Beijing News über den Skandal berichten durften, fand auch er nicht. Vor allem der Zeitpunkt der Veröffentlichung – wenige Tage vor Beginn der Sitzung des Dritten Plenums – überraschte. Wollte da jemand gar den KP-Chef Xi Jinping attackieren?

Denn dieser sagte 2013 auf einer Konferenz: „If the party is unable to ensure food safety, and if this persists, people will begin to question whether we are qualified to govern China.” Dieses Zitat machte denn auch in den sozialen Medien schnell die Runde. Dort wurden diese unterschiedlichen Öltransporte heftig kritisiert. Fast kein Thema regt die chinesische Bevölkerung mehr auf als Verstöße gegen die Sicherheit ihrer Lebensmittel.

Unternehmen und Behörden gelobten schnelle Aufklärung, zeigten aber bei der medialen Verarbeitung die altbekannten Reflexe. Medien – wie zum Beispiel der 21st Century Business  Herald – , die den Ölskandal mit Folgegeschichten am Köcheln halten wollten, wurden darauf hingewiesen, das gefälligst zu unterlassen. Und auch in den sozialen Medien wurden Begriffe zensiert, die irgendwie mit dem Skandal in Verbindung gebracht werden konnten.

Die Enthüllungsstory der Beijing News wird wohl eine Ausnahme bleiben.

Info:

Das China Media Project hat den Artikel der Beijing News teilweise übersetzt und kommentiert: https://chinamediaproject.org/2024/07/10/rare-front-page-report/?utm_source=substack&utm_medium=email

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