WAN HUA ZHEN I Die chinesische Erziehung – Die Kolumne von Liu Zhengrong

Es war sehenswertes und nervenaufreibendes Tennis von Zhen Qinwen in Paris. Mit 2:1-Sätzen gewann sie zwei Drei-Stunden Matches hinter einander, darunter auch das Spiel gegen Angelique Kerber. Dann gelang ihr im Halbfinale nach zuvor sieben Versuchen der erste Sieg gegen die Nummer 1 der Welt und ihre Angstgegnerin, Iga Swiatek. Und schließlich gewann sie auch das Finale und damit das erste Tennis-Gold einer Asiatin bei Olympischen Spielen. Losgelöst von der sportlichen Bilanz seien den China-Interessierten Zhengs Interviews empfohlen, zum Beispiel die Pressekonferenz nach ihrem siegreichen Finale**. Es war nicht allein der mühelose Wechsel zwischen Chinesisch und Englisch, den sie angenehm beherrscht, sondern es waren vielmehr ihre klaren Gedankengänge, die sie mit präziser, gleichwohl nicht einstudierter Wortwahl vortrug. Freudig, witzig, mit echten Emotionen. Das konnte Li Na, Zhengs Idol und ebenfalls aus der Provinz Hubei, nicht annähernd so gut. 

Li Na war 29 Jahre alt als sie 2011 die French Open als erste Chinesin gewann. Zheng ist jetzt erst 21. Sie ist kein Produkt des chinesischen Sportsystems. Das staatliche System hat schon seit Li Nas Zeiten zugelassen, dass Tennisprofis „alleine fliegen“ (dan fei) dürfen. Das bedeutet große Autonomie bei der Trainerwahl und der Gestaltung des Saisonkalender. Dafür trägt allerdings die Familie das Investmentrisiko selbst. Zheng ging als Teenager erst nach Peking, dann nach Barcelona. Ihr Vater, ein Sportler und Unternehmer, verkaufte die Wohnung, um die Karriere der Tochter zu finanzieren. Die Mutter kündigte ihren Job, als Zheng 12 Jahre alt war und reiste als Ganztagsbetreuerin sogar mit bis nach Spanien. Es ist eine typische, millionenfach gelebte Geschichte in der chinesischen Welt: Alles zu mobilisieren für den Nachwuchs. In diesem Fall ist das Risikoinvestment voll aufgegangen. Zheng wird als Top-Werbeträgerin bald Li Nas Rekord übertreffen, wahrscheinlich auch den von Eileen Gu, der amerikanisch-chinesischen Freestyle-Skifahrerin.

Hierzulande würde man die Frage stellen: Was macht eine solche Geschichte mit einem jungen Menschen? Zheng lieferte ihre Pressekonferenz zwar in fließendem Englisch ab. Was sie sagte, war aber ziemlich Chinesisch. Dass die Siegerin der eigenen Familie dankt, gehört heute zum Standard im Profisport. Die Ausführlichkeit, mit der Zheng sich ihren Eltern widmete, ging aber weit über die gewöhnlichen Floskeln hinaus. Den hohen Erwartungsdruck erwähnte sie mit Humor: „I feel this Olympic gold medal can give me a lot of relax because finally I can be able to say to my family, to say to my father, ‘come on, I just made history’. So in the future if I lose (again), I will just say this to him. He will (hopefully) let me stay quiet and enjoy tennis.” Will sagen, der Druck, vor allem vom Papa, war immer schon hoch gewesen, manchmal grenzwertig.  “My father, he always pushed me hard. There was no day of rest, not even during the Chinese New Year. My success is not only my success. A lot of them came from my parents, from their education to me. They teach me how to be disciplined, how to stay focused on my dream. The most important is, they always believe in me. They are not like other parents who say to their children, ‘you can’t do it’. …”

An dieser Stelle dachte Ihr Kolumnist, nach mehr als 25 Jahren in Deutschland nach eigener Einschätzung recht gut integriert, reflexartig für sich: Jetzt lobpreist sie die liberale Erziehungsmethode und klagt die Verbotskultur in der chinesischen Erziehung an … Doch weit gefehlt! 

Zheng weiter: „Since I was 9-10 years old, my father always told me, ‘one day you will win the Grand Slams; one day you can become a champion.” Was Zhengs Eltern nie zu ihrer Tochter sagten, war: “Du schaffst es nicht.” Stattdessen sagen sie, wohl täglich zu ihr: “Du kannst was Großes schaffen. Jetzt geh wieder laufen.”  

So manche deutsche Ohren und Köpfen würden geradezu empört reagieren: Das ist doch ein krasses Beispiel erfolgshungriger Eltern, die den Erwartungsdruck auf ihre armen Kinder abwälzen! Das arme Kind! 

Und doch sitzt da Zheng Qinwen vor der Weltpresse, und schließt mit den Worten: „I love you mum and dad. my success won’t be there without your guidance.“ Erst auf Englisch und dann auf Chinesisch. Anders als bei den Tenniseliten üblich, waren Papa und Mama daheim geblieben.  

Wer die Aufnahme anschaut und sie dabei beobachtet**, nimmt ihr schon ab, dass sie das nicht so sagte, weil die Medientrainer ihr es beigebracht hätten, sondern weil sie es so sagen wollte.

Eine große Mehrheit der deutschen Eltern würde die Erziehungsmethode der Zheng Familie ablehnen. Das ist völlig in Ordnung. Problematisch wäre es nur, wenn man das eigene Modell nicht nur für das bessere hält, sondern auch das einzig richtige.

Zheng Qinwen beweist, nicht zum ersten Mal, dass konstanter hoher Leistungsdruck (auch und besonders durch die Eltern) und eine selbstbewusste und dem Leben zugewandte Persönlichkeitsbildung kein Widerspruch sein müssen.

Info:

*Hier mehr über die Kolumne und den Autor: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/

**Hier zwei Ausschnitte aus der Pressekonferenz von Zheng Qinwen; https://youtu.be/5JsLuDyiUkQ?si=p6N_DOVayhOOKAvk und https://youtu.be/XO83npwHXtw?si=6q9Karj3t0tZ3BWI

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