WAN HUA ZHEN I Ja, es gibt in China ein Sozialversicherungssystem / Von Liu Zhengrong

Neulich stand in der FAZ zu lesen: „Bis zu 2853 Euro mehr Sozialabgaben in 2025“. Das Thema der Sozialabgaben kenne ich, seitdem ich in Deutschland lebe. Ganz am Anfang wunderte ich mich, dass mein Nettolohn als studentischer Paktsortierer bei UPS in Köln-Ossendorf spürbar weniger war als der vereinbarte Stundenlohn. Der Unterschied Brutto-Netto war meine erste Lektion. Später als der „personifizierte Arbeitgeber“ – so ist die Rolle eines Personalchefs de jure – beklagte ich mich über die zu hohen Abgabenlasten. „Die Arbeit darf nicht noch teurer werden“, so mein Standardsatz.

Die Sozialabgaben – ein bedeutendes und spannendes Thema, auch in China. Denn was weitgehend unbekannt ist: Auch China hat ein Sozialversicherungssystem, das praktisch aus dem Nichts auf- und ausgebaut wurde. Dabei hatte man sich, aus heutiger Sicht wie ein Wunder, in der Grundstruktur an dem deutschen Vorbild orientiert. Nie hatte die Bundesrepublik größeren Einfluß auf Chinas gesellschaftliche Transformation als damals in den 90er Jahren.

Aber was bedeutet „chinesische Sozialversicherung“ ganz praktisch? Nachfolgend nehmen wir das Beispiel von Shanghai, basierend auf dem Informationsstand vom ersten Halbjahr 2024.

Dabei werden gleich zwei Hinweise mitgeliefert: Erstens, es gibt noch kein landesweit einheitliches System, dafür ist der Entwicklungsstand von Region zu Region in China zu unterschiedlich. Zweitens, die Frage „Wie teuer darf Arbeit sein?“ bereitet auch in China Kopfschmerzen. Im Oktober wird der Krankversicherungsbeitrag um 0,5 Prozentpunkte gesenkt, um die Arbeitgeber zu entlasten. Die turnusmäßige Anpassung der Beitragsbemessungsgrenzen (BBG), wie gesagt, Deutschland diente als Vorbild damals bei der Grundkonzeptionierung, findet ebenfalls statt.

Grundsätzlich sieht das System eine Co-Finanzierung durch die Arbeitgeber (AG) und die Arbeitnehmer (AN) vor, wobei – anders als in Deutschland – die Abgabelasten deutlich mehr von den Arbeitgebern zu tragen sind.

Die Sozialversicherung in China beinhaltet zunächst drei Elemente, die uns vertraut sind:

  • Die Rentenversicherung: 16 Prozent AG-Beitrag und 8 Prozent AN-Beitrag;
  • Die Krankenversicherung: 9,5 Prozent AG (sinkt in Shanghai ab Oktober auf 9 Prozent) und zwei Prozent AN;
  • Die Arbeitslosenversicherung: AG / AN jeweils 0,5 Prozent.

Dazu gibt es zwei Positionen, die allein vom Arbeitgeber zu tragen sind:

  • Work Injury Insurance (in Ermangelung der Berufsgenossenschaft): 0,835 Prozent. Es ist nicht überliefert, warum die Zahl so krumm sein muss. 
  • Maternity Insurance: ein Prozent. Schwangerschaft und Geburt sind keine „Krankheit“, deshalb sind sie auch außerhalb der klassischen Krankenversicherung angesiedelt.

Diese eben erfolgte Aufzählung ist in China als „Wu Xian“ – fünf Versicherungen – bekannt. Dazu gesellt sich noch „Yi Jin“ („ein Kapitalfond“). Für ihn gibt es keine direkte Entsprechung in Deutschland. Am ehesten zu vergleichen ist er mit den Bausparplänen, in China zu entrichten vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit je sieben Prozent des Monatslohns. Anders als bei den gesetzlichen Renten gilt hierbei kein Umlageverfahren. Das heißt, die gesamten Einzahlungen gehören zu 100 Prozent den einzelnen Beschäftigten. 

Addiert man alles zusammen, so ergeben sich allein für die Arbeitgeber satte 35 Prozent Lohnnebenkosten. Das heißt, für je 100 RMB-Arbeitslohn müssen noch einmal 35 RMB dazu addiert werden. Die Arbeitgeber in Deutschland tragen im Schnitt um die 22 Prozent an Lohnnebenkosten. Die chinesischen Arbeitnehmer steuern selbst noch einmal 10,5 Prozent bei. Das macht eine gesamte Lohnnebenkostenquote von über 45 Prozent, ebenfalls höher als in Deutschland.

Ist das „rücksichtsloser Manchester-Kapitalismus“, wie manche im Westen behaupten? Oder werden hier „unverschämte Kostenvorteile durch Billiglöhne“ ausgenutzt?

Kenner der Systematik würden fragen: Wo liegt die Beitragsbemessungsgrenze?

Richtige Frage. Somit sind wir wieder beim Thema wie kürzlich in der FAZ. Hinter der Festlegung der Bemessungsgrenze verbirgt sich, egal ob in Deutschland oder China, immer die Frage der Verteilungsgerechtigkeit und ebenso die Frage, meine alte Frage – „wie teuer darf Arbeit sein“, um wettbewerbsfähig zu bleiben?

Anders als in Deutschland ist die Obergrenze im Fall von Shanghai einheitlich für alle Versicherungsarten. Sie liegt aktuell bei einem monatlichen Einkommen von 36 549 RMB, umgerechnet 4 700 Euro. Da mindestens ein 13. Monatsgehalt üblich ist, ist die vergleichbare Beitragsbemessungsgrenze auf Jahresbasis klar über 60 000 Euro Das ist etwa auf der Höhe der aktuellen Beitragsbemessungsgrenze für die Kranken- und Pflegeversicherung in Deutschland. Auch Ihr Kolumnist staunte nicht schlecht: Diese aktuelle Grenze bedeutet eine Steigerung von über 40 Prozent (!) gegenüber 2020, als er noch selbst für das China-Geschäft seines damaligen Unternehmens zuständig war.

Wenn ich heute wieder Personalchef in China wäre, wie damals 1998, würde ich selbstverständlich die hohe Abgabenlast lauthals beklagen. Als China-Beobachter und -Kolumnist applaudiere ich dagegen den Verantwortlichen, dass sie trotz des massiven ökonomischen Drucks der Versuchung widerstanden haben, die (hohen) Sozialabgaben als Erstes zu kürzen.

Demnächst eine Fortsetzung der Geschichte über das hierzulande unbekannte chinesische Sozialversicherungssystem. Etwa zu der Frage: „Hat China auch eine Pflegeversicherung?“ So viel darf ich schon verraten: “doch, aber …” 

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