Chancay war bis vor kurzem ein kleines Fischerdorf nördlich der peruanischen Hauptstadt Lima. Doch nun ist es ein wichtiger Punkt auf der Weltkarte globaler Handelsströme. Am 14. November wurde dort ein Tiefseehafen eröffnet. Die virtuelle Einweihung vollzogen in Lima die peruanische Präsidentin Dina Boluarte und Chinas Parteichef Xi Jinping. Warum war Xi anwesend? Weil der Bau des Hafens zu einem großen Teil von China finanziert wurde, weil das Staatsunternehmen Cosco dort die Mehrheit hält und weil der Hafen für China eine große geoökonomische Bedeutung hat. Waren können nun auf der „Chancay-Shanghai-Route“ schneller von Südamerika nach China verschifft werden. Sie müssen nicht mehr in Häfen am Atlantik verladen und dann durch den Panama-Kanal transportiert werden. Die Containerschiffe sind deshalb künftig nur noch 23 statt bisher 35 Tage unterwegs.
Für China ist der Hafen in Peru ein weiterer wichtiger Meilenstein. Schon seit der Jahrtausendwende hat China kontinuierlich seine Beziehungen zu Lateinamerika aufgebaut. Fast 200 Milliarden Dollar wurden seitdem auf dem Kontinent investiert. Die chinesischen Investitionen konzentrieren sich dabei auf eine Handvoll Länder: Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Peru. Das sind – wenig verwunderlich – rohstoffreiche Staaten. Sie haben die Rohstoffe, die China benötigt: Das sind zum einen agrarische Rohstoffe wie Fleisch und Soja, aber auch industrielle Rohstoffe wie Eisen, Kupfer, Öl und zunehmend Lithium, das für die erneuerbaren Energien gebraucht wird. Umgekehrt liefern chinesische Firmen viele Konsumgüter nach Südamerika. Handys und (Elektro-)Autos aus China dominieren die dortigen Märkte.
Verlierer in diesem Spiel sind die USA und Europa. Zunächst zu den USA. Dort gab es mal die Monroe-Doktrin. Der US-Präsident James Monroe erklärte in seiner Rede zur Lage der Nation am 2. Dezember 1823 den ganzen amerikanischen Kontinent zur Einflusssphäre der Vereinigten Staaten. Lateinamerika wurde fortan als Hinterland der USA betrachtet. Doch die Zeiten sind vorbei. Die aktuellen Nachfolger Monroes – ob Bush, Obama, Biden oder Trump – kümmerten sich wenig um Lateinamerika. Bezeichnend: Biden war kürzlich beim APEC-Gipfel in Lima zum ersten Mal in seiner Amtszeit in der Südhälfte des amerikanischen Kontinents. „The US has been absent from Latin America for so long, and China has moved in so rapidly, that things have really reconfigurated in the past decade”, sagte Monica de Bolle (Peterson Institute for International Economics) gegenüber dem britischen Sender BBC. Anders als die USA pflegen die Chinesen ihre Beziehungen zu Lateinamerika. Allein Xi Jinping war während seiner bisherigen Amtszeit sechsmal in Lateinamerika. Mit 22 lateinamerikanischen und karibischen Staaten hat China ein Abkommen im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative (BRI) abgeschlossen. Allerdings nicht mit Brasilien. Xi Jinping hätte gerne bei seinem jüngsten Staatsbesuch in Brasilien ein solches Dokument unterzeichnet, aber Lula weigerte sich. Er will sich nicht zu abhängig von China machen und eine gewisse strategische Autonomie behalten.
Und damit kommt die EU ins Spiel, die durchaus für Brasilien und andere lateinamerikanische Staaten eine partielle Alternative zu China wäre. Doch was macht die EU? Sie verspielte bislang ihre Chancen. Seit über 20 Jahren wird über ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur-Verbund verhandelt. Dem Mercosur (Mercado Común del Sur) gehören die vier Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay an. Mit 750 Millionen Einwohnern entstünde eine der größten Handelszonen. Bei einem Gipfeltreffen in Montevideo am 6. und 7. Dezember soll nun der Vertrag endlich unterschrieben werden. Doch danach muss er im Ministerrat von einer qualifizierten Mehrheit beschlossen werden. Ob das gelingen wird, ist derzeit nicht absehbar. Vor allem Frankreich ist mit Rücksicht auf seine Bauern ein entschiedener Gegner eines EU-Mercosur-Abkommens. Neben der Regierung hat sich soeben auch das französische Parlament mit einer deutlichen Mehrheit von 484 gegen 70 Stimmen gegen ein Abkommen ausgesprochen. Die Frage wird sein, ob Frankreich genügend Verbündete findet – Polen ist nicht abgeneigt – , um den Deal zu stoppen.
Deutlicher kann der Unterschied zwischen China und der EU nicht sein: China handelt, die EU verhandelt.
Info:
Hier eine aktuelle Übersicht über die Beziehungen Chinas und der EU zu Lateinamerika: