POLITIK I Xinjiang (II) – Ein Buch und eine deutsche Debatte

Im Mai 2023 reisten fünf deutsche China-Wissenschaftler nach Xinjiang: Georg Gesk, Thomas Heberer, Norman Paech, Monika Schädler und Helwig Schmidt-Glintzer. Bis auf Georg Gesk, der an der Universität Osnabrück lehrt, sind das alle ehemalige Professoren an deutschen Universitäten. „Angesichts der widersprüchlichen bis konträren Aussagen westlicher und chinesischer Quellen“ (dies und die folgenden Zitate stammen aus dem Buch, das die Fünf später herausgegeben haben) wollten sie sich selbst ein Bild von der Lage in dieser Region Chinas machen, die ja seit Jahren wegen der Unterdrückung der Uiguren in der Diskussion steht. Eingeladen wurden sie von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften von Xinjiang (XJASS), bezahlt haben sie die Reise selbst. Ihr primäres Ziel sei nicht gewesen, „die unbestreitbaren Vorwürfe im Hinblick auf die Menschenrechtslage zu untersuchen“. Vielmehr wollten sie erkunden, „ob sich nach der Einsetzung einer neuen politischen Führungsriege in Xinjiang Ende 2021 hinsichtlich der regionalen Politik etwas verändert hat“. Sie trafen auf ihrer mehrtägigen Reise auch den damals neu eingesetzten Parteichef von Xinjiang Ma Xingrui, führten in Urumqi und Kashgar viele Gespräche mit Vertretern aus Kultur, Bildung und Wirtschaft, nahmen an zahlreichen großen Diskussionsrunden teil.

Die Gespräche und Erlebnisse auf dieser Reise haben sie vor kurzem in einem Buch verarbeitet: „Xinjiang – eine Region im Spannungsfeld von Geschichte und Moderne“. In dem umfangreichen Buch sind auch einige Beiträge von Autoren, die nicht zur Reisegruppe zählten, so gibt zum Beispiel Hans van Ess eine informative Einführung in die Geschichte Xinjiangs und der Uiguren. Aber ich will mich auf die Beiträge der fünf Herausgeber konzentrieren. Sie stellen einleitend fest, dass Xinjiang keineswegs eine abgeschlossene Region (mehr) ist, sondern offen und relativ problemlos besucht werden kann“. Die Gruppe sei völlig überrascht gewesen, dass eine „Normalität“ zu herrschen schien. Die Reise hätte verdeutlicht, dass die ‘Bekämpfung von Terrorismus und Islamismus‘ der Jahre 2017 bis 202o in Xinjiang inzwischen und im Rückblick als eine Übergangsphase anzusehen ist, die nunmehr von einer Phase neuerlicher ‚Verrechtlichung‘ abgelöst werden soll.“ Die Gruppe vermeldet außerdem: „Die Lager, die in der Hochphase des Kampfes gegen den Terror entstanden sind, sollen inzwischen weitgehend aufgelöst worden sein.“ Sie berichtet von 15 Jahren kostenloser Kindergarten-, Schul- und Berufsausbildung für junge Uiguren. Und sie stellt fest: „Eine generelle Diskriminierung der uigurischen Sprache und Kultur konnte nicht festgestellt werden.“

Das sind natürliche provozierende Aussagen für den Mainstream von Wissenschaftlern und Medien, die von mindestens einer Million inhaftierten Uiguren reden, China zumindest des kulturellen Genozids an den Uiguren bezichtigen und sich dabei meist auf den Kronzeugen Adrian Senz berufen, der von den fernen USA aus mit Hilfe von Satellitenfotos, geleakten Papieren und Aussagen von Exil-Uiguren das (westliche) Meinungsbild zu Xinjiang dominiert. Der Würzburger Sinologie-Professor Björn Alpermann, der seit Jahren zu Xinjiang forscht, gehört zu diesem Mainstream. In der Süddeutschen Zeitung (29. November) durfte er auf sechs Spalten das Buch sezieren. Die Überschrift „Besten Dank von Xi Jinping“ gibt die Richtung vor. Es wird suggeriert, dass sich die Reisegruppe von der Partei instrumentalisieren liess: „Auf solchen von offizieller Seite begleiteten Reisen … bekommt man nur zu sehen, was der Partei genehm ist.“ Das von den Autoren vorgebrachte rechtfertigende Sprichwort „mit eigenen Augen zu sehen, ist tausendmal besser, als darüber zu hören oder zu lesen“, lässt er nicht gelten, tut es als „naiven Empirismus“ ab.

Anhand der Xinjiang-Debatte stellt sich in der Tat die grundsätzliche Frage: Wie soll, wie darf man heutzutage noch zu China forschen? Soll man noch nach China reisen und Feldforschung betreiben auf die Gefahr hin, dass man als Büttel des Regimes diffamiert wird? Oder soll man lieber zuhause im Elfenbeinturm bleiben und aus der Ferne das Land und seine Gesellschaft mit Hilfe von Satellitenbildern und Weibo-Kommentaren analysieren?

Für den 52jährigen Alpermann sind diese Fragen offenbar auch eine Generationenfrage. So schreibt er, dass die Beiträge in dem Buch „größtenteils von einer Generation von Sinologen stammt, deren Auseinandersetzung mit der VR China unter dem Eindruck der Kulturrevolution begann, und die die rasante anschließende Entwicklung als weitgehend positiv abgespeichert haben.“ Was soll das heißen? Sollen sich die über 70jährigen, die aufgrund ihres Alters China so lange kennen, aus der Diskussion raushalten? Da muss ich mich als jemand, der gerade seinen 71. Geburtstag gefeiert hat, mit Thomas Heberer (77), Monika Schädler (71) und Helwig Schmidt-Glintzer (76) solidarisieren und fordern: Schreibt weiter – auch wenn es gegen den Zeitgeist ist!

Info:

Georg Gesk, Thomas Heberer, Norman Paech, Monika Schädler und Helwig Schmidt-Glintzer (Hrsg.): Xinjiang – eine Region im Spannungsfeld von Geschichte und Moderne, LIT-Verlag, 520 Seiten, 55 Euro.

Der Gastbeitrag von Björn Alpermann in der Süddeutschen Zeitung ist hinter der Bezahlschranke: https://www.sueddeutsche.de/kultur/helwig-schmidt-glintzer-georg-gesk-thomas-heberer-monika-schaedler-xinjiang-deutsche-china-wissenschaft-rezension-lux.CsWafgqkzNAmafaJi91avN?reduced=true

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