Während meiner Zeit als Manager besuchte ich bei Auslandsreisen gerne die örtlichen Läden, in denen unsere Produkte und die unserer Wettbewerber angeboten wurden. Ein sogenannter „Store-Check“ ist in der Konsumgüterindustrie für Führungskräfte eine Pflichtaufgabe. In der Regel wird er akribisch von den lokalen Teams organisiert. Doch aus unangekündigten Vor-Ort-Besuchen habe ich oft Neues gelernt – über uns und über den Markt.
Für meine kürzlich erfolgte private China-Reise nahm ich mir deshalb vor, in Yunnan einen Ort zu besuchen, von dem ich noch nie gehört hatte und der auch meiner Reiseagentur unbekannt war. Auf meiner Karte kreisten meine Finger über der bereits festgelegten Route, bis sie an 漾濞 (Yangbi) hängen blieben – nicht zuletzt, weil mir die Schriftzeichen so sympathisch erschienen. „Dorthin fährt doch kein Mensch“, meinte erwartungsgemäß die Planerin der Agentur, die auf maßgeschneiderte Individualreisen spezialisiert ist. „Egal, ich möchte trotzdem hin, auch wenn es dort nichts gibt.“ „Na ja, Menschen werden Sie schon sehen – wir sind in China“, entgegnete sie sarkastisch und stimmte zu.
Der Yangbi Autonome Kreis der Minderheit Yi, so der offizielle Name, hat rund 100 000 Einwohner. Unter den über 1.800 chinesischen Kreisverwaltungen zählt er damit zu den kleinsten. Erst nachdem das Zufallsziel feststand, begann ich zu recherchieren. Yangbi hat eine weitaus bekanntere Nachbarstadt: Dali. Dali liegt östlich des Cangshan-Gebirges malerisch am Erhai-See, ist aber von Touristen überlaufen. Während es in Dali zahllose Sehenswürdigkeiten gibt, setzt Yangbi westlich des Cangshan auf seine … Walnüsse: Angeblich wurde 1995 per Staatsratsbeschluss verfügt, dass Yangbi sich offiziell „Home of Walnuts“ (中国核桃之乡) nennen darf. Es gab nicht viele Reiseblogs, die etwas über Yangbi berichteten, aber doch genügend Hinweise, um mich für zwei Tage auf eine spontane Visite einzulassen.
Yangbi ist sehr bergig. Die Dörfer verteilen sich vom Tal des gleichnamigen Flusses bis hinauf in die Nähe der Schneegrenze, wo kaum noch Vegetation wächst. Meine Fahrerin stammt aus Dali und lebt dort. „Die Menschen auf der ‚falschen Seite‘ des Cangshan-Gebirges – sie meinte die Gegend um Yangbi – kennen echte Armut“, erzählte sie. Sie war etwas nervös, als wir in eines der Bergdörfer fuhren, das auf über 2000 Metern Höhe liegt. Passenderweise heißt es „Über den Wolken“ (云上村). Vor rund zehn Jahren war sie schon einmal dort gewesen. Das Dorf ist bekannt für seine zum Teil uralten Walnussbäume, von denen einige mehr als 500 Jahre alt sein sollen. Doch mit jedem Kilometer der kurvenreichen Strecke wurde sie unruhiger: „Sind wir hier überhaupt richtig? Es sieht vollkommen anders aus als damals.“
Derweil dachte ich, der Erstbesucher aus Deutschland auf dem Beifahrersitz: Hierher könnte ich jeden einladen – nicht nur Abenteuerlustige, sondern auch anspruchsvolle Wellness-Urlauber. Denn „Über den Wolken“ präsentierte sich in einer Postkartenidylle, die ebenso gut in den bayerischen Voralpen oder den Dolomiten hätte liegen können: eine bizarre Bergkulisse unter blauem Himmel, großzügige Höfe mit dunklem Holz und hellem Naturstein (oder umgekehrt), farbenfrohe Wandmalereien, Autos vor fast jedem Haus und Mülltonnen in vier Farben zur Mülltrennung. Und soweit das Auge reichte Walnussbäume. Jeder Baum, der älter ist als 100 Jahre, trägt eine kleinen Info-Tafel.
Das Teehaus des Dorfes ist hell und geräumig. An der Theke steht auch eine elegante italienische Siebträgermaschine. Ich war der einzige Gast und genoss die volle Aufmerksamkeit der Besitzerin. Man könnte meinen, in Yunnan haben generell die Frauen das Sagen – immerhin existiert hier in der Provinz auch die matriarchalische Vorherrschaft des Mosuo-Volks. „Wir machen Tourismus, aber anders als die in Dali“, sagte sie. „Dali baut alles nach. Die Pagoden und Tempel wirken alt, sind aber neu, errichtet nach der Kulturrevolution. Wir hingegen nutzen einfach das, was wir haben: Ruhe, gute Luft, frische Lebensmittel und unsere Walnussbäume. Sie sollten im März wiederkommen – dann sehen Sie ein Meer von Blüten. Unsere Gäste unterscheiden sich deutlich von denen in Dali.“ „Über den Wolken“ zählt 73 Familien aus fünf unterschiedlichen ethnischen Gruppen. „Wir diskutieren alles und entscheiden gemeinsam. Unsere Abgeschiedenheit war seit Ewigkeit ein nicht lösbares Problem. Jetzt ist sie zu unserer größten Chance geworden.“
Nach Angaben der Provinzregierung wurde der Kreis Yangbi erst 2019 von der Liste der Armutsregionen gestrichen. Dass es dennoch nicht überall rund läuft, sieht man im Tal in der Kreisstadt, überragt von einem riesigen Verwaltungsgebäude. Ganze Straßenzüge mit baufälligen Altbauten stehen leer, teilweise mit Warnschildern für Passanten versehen, bitte nicht näherzukommen. Alle paar hundert Meter gibt es Handwaschbecken mit großen Hinweisen auf die „Sieben Schritte des Händewaschens“ – ein Relikt aus der längst kollektiv vergessenen Corona-Zeit. Dazwischen zahlreiche geschlossene Geschäfte für den täglichen Bedarf.
Ich muss zugeben, ich hatte das Gegenteil erwartet: verarmte Dörfer oben in den Bergen und unten eine belebtere Kleinstadt mit mehr Verkehr, Geschäften und Kaufkraft. Genau dieses Stadt-Land-Gefälle findet man in vielen Entwicklungsländern. Doch warum ist es in Yangbi umgekehrt? Die geografischen Vor- und Nachteile wurden durch drei Jahrzehnte kontinuierlicher Infrastrukturinvestitionen nahezu ausgeglichen. „Die falsche Seite“, an die meine Fahrerin sich erinnerte, gibt es faktisch nicht mehr. Wer kreativ und geschickt ist, kann sich leicht vom Rest abheben.
Und nicht nur der Autonome Kreis Yangbi ist inzwischen gut angebunden. Yunnans erste Autobahn, 1996 eröffnet, war nur 45 Kilometer lang und führte von der Provinzhauptstadt Kunming nordwärts. Im Jahr 2023 ist das Autobahnnetz auf über 10 000 Kilometer angewachsen – die zweithöchste Dichte in ganz China. Das Eisenbahnnetz in Yunnan hat eine Länge von rund 5000 Kilometern und beförderte im Jahr 2024 rund 100 Millionen Passagiere. Hinzu kommen 15 zivile Flughäfen. Von dieser deutlich verbesserten Verkehrsanbindung profitieren auch die abgelegensten Dörfer. Was die Menschen daraus machen, bleibt ihnen selbst überlassen. In der Kreisstadt mit ihren komplizierten Zuständigkeiten und dichten Netzwerken geschieht offenkundig wenig. Wo jedoch eine Dorfgemeinschaft an einem Strang zieht, wie in „Über den Wolken“, überholt sie innerhalb weniger Jahre sogar die Kreisstadt.
Die teils hochdefizitären Mega-Infrastrukturprojekte in China lassen sich nicht allein nach betriebswirtschaftlichen Kriterien oder durch die „Schulden-Brille“ beurteilen. Die massive Verringerung räumlicher Distanzen in einem Land von kontinentaler Größe und das Überwinden geografischer Nachteile für entlegene Regionen schaffen eine völlig neue Grundlage für Wettbewerb und eigenständige Entwicklung. „Wir bringen den Dörfern keine Schecks – wir bauen ihnen Straßen bis vor die Haustür“, so wird das chinesische Modell gern zusammengefasst.
Die eigentlichen „Schecks“ kommen übrigens von Menschen, die man nur selten in den Dörfern bzw. in der Kreisstadt antrifft. Oft sind sie zwischen 25 und 50 Jahre alt und arbeiten 100, 500 oder 2000 Kilometer entfernt in den großen Ballungsgebieten. Von dort aus schicken sie regelmäßig Geld in die Heimat zu Eltern und Kindern. Das alltägliche Bild in vielen dieser Orte besteht dann aus Großeltern mit Enkeln. „Gesund ist das nicht“, werden die hiesigen Leser sagen. Nein, ist es auch nicht, so wie vieles an der chinesischen Entwicklung zweischneidig ist. Nur: allein Yunnan ist größer als Japan oder Vietnam und hat eine multiethnische Bevölkerung von über 40 Millionen. Kann es dafür überhaupt ein „perfektes“ Modell für die Entwicklung geben?
Ich war jedenfalls froh, Yangbi besucht zu haben. Es hat etwas Beruhigendes, in einer per Zufall ausgewählten Region das zu sehen, was generell für China gilt: unwahrscheinlich große Fortschritte, vor allem bei der Verbesserung der Lebensbedingungen dicht neben immensen Herausforderungen, die sich aus der Ungleichzeitigkeit und Ungleichmäßigkeit der Entwicklung ergaben.
* Was Wan Hua Zhen bedeutet und wer der Autor ist, erfahren Sie hier: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/