Wieder einmal hat es kaum jemand kommen sehen: die KI-Schockwelle durch DeepSeek. Noch am Tag vor dem Börsenbeben am 27. Januar war die DeepSeek-Geschichte einer großen deutschen Sonntagszeitung nur einen einzigen Satz wert: „Aus dem Fernen Osten kam in der vergangenen Woche eine sehr billige neue KI dazu.“ Schnell wurde jedoch klar, dass diese „sehr billige neue KI“ möglicherweise der folgenreichste China-Schock der letzten Jahre ist.
DeepSeek: App vs. LLM
Alle reden von DeepSeek. Dabei ist DeepSeek nicht immer DeepSeek. Man muss unterscheiden:
- Die DeepSeek-App: Eine mobile Anwendung für Smartphones, die für Schlagzeilen sorgte, als sie zwischenzeitlich Platz Eins der Download-Charts im US-amerikanischen Apple Store erreichte. Sie ist auch in Deutschland verfügbar. Ihre Funktionsweise ähnelt der von ChatGPT. Während zahlreiche Menschen begeistert sind von den anfänglichen Nutzererfahrungen, warnen andere sogleich vor potenziellen Risiken wie „Backdoors“ oder „Tracking“. Alles wie gehabt, sobald es um die chinesischen APPs geht.
- DeepSeek R1 – Die eigentliche Sensation: Das Large Language Model (LLM) DeepSeek R1 ist, im Gegensatz zu OpenAI als Open-Source-Modell kostenlos verfügbar und kann unabhängig von China gehostet werden. Die Funktionsweise wurde in einem 22-seitigen Begleitpapier detailliert beschrieben und online veröffentlicht: „DeepSeek-R1: Incentivizing Reasoning Capability in LLMs via Reinforcement Learning“.
Wenn also, etwas übertrieben, von einem „Sputnik-Moment“ die Rede war – wie Marc Andreessen es formulierte – dann bezog sich das auf das Open-Source-LLM von DeepSeek.
Fünf Beobachtungen zum Phänomen DeepSeek:
Ressourcenknappheit fördert Innovation
Nicht nur das US-Chip-Embargo gegen China spielt dabei eine Rolle. Die Marktkapitalisierung chinesischer Unternehmen liegt inzwischen weit hinter ihren US-Wettbewerbern zurück, was sie faktisch ärmer macht. Wer knapp bei Kasse ist, muss sein Geld effizienter einsetzen. Not macht erfinderisch – das wissen die Deutschen am besten. Die Chinesen inzwischen auch.
Interner Wettbewerb als Innovationsmotor
In China herrscht ein intensivster Wettbewerb in nahezu jeder Branche. Gerade für die digitale Wirtschaft dominiert in der westlichen Welt oft ein einziges Unternehmen den Markt: Amazon für E-Commerce, Tesla für Elektroautos, Google als Suchmaschine und Uber für Fahrdienste. Wer ist die Nummer zwei? Die Antwort variiert in Europa von Land zu Land, weil es keine echt starke Nummer Zwei gibt. Das ist in China bekanntlich ganz anders. „Winner takes all“ wurde aktiv verhindert. Auch DeepSeek ist nicht allein unterwegs. Bald wird man Namen wie Kimi, Qwen (von Alibaba) oder Doubao (von ByteDance) häufiger hören. Nicht alle werden auf längere Sicht überleben. Doch diejenigen, die sich am Ende durchsetzen, werden besonders stark und international konkurrenzfähig sein.
DeepSeek relativiert die KI-Vormachtstellung der USA
Man sollte die Bedeutung von DeepSeek & Co. nicht überhöhen. ChatGPT, Claude oder Gemini haben ihre Stärke längst nicht voll ausgeschöpft. Doch DeepSeek hat den globalen KI-Wettbewerb unerwartet intensiviert. Vor allem schafft die Open-Source-Architektur des LLM R1 eine neue Chancengleichheit – für Länder und für Unternehmen, die bislang nicht mit den USA bzw. den amerikanischen Firmen mithalten können. Das gilt praktisch für alle, auch die EU.
In seinen letzten Tagen als Präsident erließ Joe Biden noch die „AI Diffusion Rules“, woraufhin The Economist kommentierte: „Dies soll andere Länder dazu zwingen, sich in das amerikanische KI-Ökosystem einzufügen.“ Doch mit DeepSeek gibt es nun eine frei zugängliche Alternative. Bald dürfte DeepSeek die Aufmerksamkeit mit anderen neuen Wettbewerbern teilen.
KI-Anwendung ist der Schlüssel
Während im Westen, kräftig angetrieben durch die USA, der Fokus auf generativen KI-Modellen wie LLMs bis hin zu AGI (Artifical General Intelligence) liegt, hat China in großen Schritten führende Positionen bei industriellen KI-Anwendungen aufgebaut.
Der Schlüssel dazu sind die sogenannten „Industrial Models“ – eher generische KI-Werkzeuge, die sich branchen- und firmenspezifisch anpassen lassen. Hier ist nicht die höchstmögliche Rechenleistung entscheidend, sondern die Verzahnung zwischen handlichen KI-Modellen und Erfahrungen in Produktionsprozessen und -verfahren sowie Kostenführerschaft. Als „Werkbank der Welt“ hat China dabei einen Vorsprung. Mit DeepSeek könnten nun auch die Kosten für solche Anwendungen erheblich sinken.
Warum ist DeepSeek nicht in Deutschland entstanden?
Im Wettbewerb mit US-Tech-Giganten stehen deutsche Unternehmen, gemessen an Finanzkraft, vor ähnlichen Herausforderungen wie die chinesischen. Sie müssen nämlich kostenschonende neue Wege beschreiten. Im Gegensatz zu China hat die Bundesrepublik jedoch freien Zugang zu modernsten Chips. Doch sind echte Durchbrüche bislang rar. Warum eigentlich? Umgekehrt fragt man sich erneut, warum viele industrielle Disruptionen aus China kommen – und das in einem System, das oft als rigide und zentralistisch beschrieben wird. Vielleicht ist es an der Zeit, dieses Bild von China gründlich zu hinterfragen? Zumal im Fall von DeepSeek können weder „billige Löhne“ noch „Subventionen“ als Erklärung herangezogen werden. Die aus westlicher Sicht unsicheren und undurchsichtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben in China paradoxerweise Unternehmer hervorgebracht, die resilienter und anpassungsfähiger sind. Viele von ihnen lieben es, den Status quo herauszufordern – gerade, weil sie im chinesischen System aufgewachsen sind.
Wenn die Chefs von Nvidia oder OpenAI, also die neuen Titanen der internationalen Wirtschaft, unermüdlich hämmern: „Es geht nur mit mehr Chips und teuren Routinen des Maschinenlernens“, braucht es Menschen, die es dennoch wagen zu fragen: „Ist es wirklich so? Kann es nur so sein?“ Ein paar gewöhnliche chinesischen Namen sind dadurch gerade weltweit bekannt geworden.
Sie werden nicht die letzten sein.
* Was Wan Hua Zhen bedeutet und wer der Autor ist, erfahren Sie hier: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/