SPORT I Ilker Gündogan über Chinas Fußball und seine Probleme

Ilker Gündogan ist Praktiker und Theoretiker. Im Alter von dreieinhalb Jahren fing er an, Fußball zu spielen. Er schaffte es später bis in die Regionalliga, dann beendeten Verletzungen früh seine Karriere (im Gegensatz zu seinem Bruder Ilkay, der es bis zum Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft schaffte). Statt in Stadien trieb sich Ilker in Hörsälen und Seminarräumen herum. Er studierte an der Ruhr-Universität Bochum Wirtschaft und Politik Ostasiens. Dort promovierte er auch. Diese Doktorarbeit hat Gündogan, der inzwischen an der Universität Würzburg forscht und lehrt, zu einem Buch erweitert, das dieser Tage in englischer Sprache erschien: „The Politics of Football in China – Institutional Change and Political Steering under Xi Jinping.“  Es bietet eine sehr gute Übersicht über den chinesischen Fußball, seine Probleme und die Versuche Xi Jinpings diese zu lösen. In der folgenden Beantwortung meiner drei Fragen gibt Ilker Gündogan eine Zusammenfassung seiner Thesen.

Wie hat sich der chinesische Fußball unter Xi Jinping entwickelt?

Unter der Führung von Xi Jinping hat der chinesische Fußball einen tiefgreifenden institutionellen Wandel und eine politische Neuausrichtung erfahren. Vor der Amtszeit von Xi Jinping war Fußball in China weder eine zentrale politische Priorität noch ein eigenständiges Politikfeld auf nationaler Ebene. Fußball war Teil der allgemeinen Sportpolitik, die in erster Linie darauf abzielte, internationale sportliche Erfolge zu erzielen, um Chinas Soft Power und internationales Ansehen zu stärken sowie Nationalstolz, Zusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl innerhalb Chinas zu konsolidieren.

Seit den 1980er Jahren sind die administrativen Zuständigkeiten zunehmend fragmentiert und dezentralisiert. Die Verantwortung für den Sport lag daher größtenteils bei dezentralen Akteuren wie einzelnen Einheiten der General Administration of Sports (Allgemeinen Sportverwaltung), einer dem Staatsrat unterstellten Regierungsbehörde, und politische Entscheidungen wurden häufig von untergeordneten Akteuren wie dem chinesischen Fußballverband und chinesischen Unternehmern, die Fußballklubs besaßen, getroffen.

Mit dem Amtsantritt von Xi Jinping als Generalsekretär der KP im Jahr 2012 änderte sich die politische Prioritätensetzung grundlegend. Zwischen 2014 und 2016 initiierte die chinesische Regierung auf höchster Ebene mehrere umfassende Reformprogramme, die den Fußball als politisches Handlungsfeld nach dem Prinzip des „Top-Level Design“ neu strukturierten.

Das vor ziemlich genau zehn Jahren veröffentlichte „Gesamtchinesische Programm zur Reform und Entwicklung des Fußballs“ von 2015 und der „Mittel- und langfristige Entwicklungsplan des chinesischen Fußballs (2016-2050)“ verdeutlichen die langfristigen Ziele, die durch die Förderung des nationalen Fußballs erreicht werden sollen, wie etwa die Verbesserung der physischen und psychischen Gesundheit der Bevölkerung, die Steigerung des Konsums, die Förderung patriotischer Werte und die Stärkung des internationalen Ansehens Chinas.

Das wichtigste Ziel ist meines Erachtens, dass der Erfolg im Fußball von den politischen Eliten in China als symbolisches Unterfangen für die Verwirklichung des chinesischen Traums angesehen wird, d.h. als symbolische Projektionsfläche für den (Wieder-)Aufstieg der chinesischen Nation zu einer globalen Führungsmacht in jedweder Hinsicht.

Die politischen Reform- und Entwicklungsbestrebungen unter Xi Jinping haben auch zu weitreichenden Veränderungen in der Organisationsstruktur des chinesischen Fußballs geführt. Neue hochrangige Regierungsgremien wurden geschaffen und die zentralen politischen Steuerungskapazitäten gestärkt. Der politische Ansatz verlagerte sich von einer fragmentierten, dezentralen Führung hin zu einer stärker zentralisierten, vertikal durchgesetzten Steuerung und Umsetzung politischer Vorgaben. Dabei wurden sowohl „harte“ Maßnahmen (z.B. Sanktionen) als auch „weiche“ Steuerungsmaßnahmen (z.B. diskursive Elemente der Implementation) hierarchisch eingesetzt, um die Akteure auf den unteren Ebenen auf die von der politischen Zentrale Chinas vorgegebene „Linie“ zu bringen.

Was sind die Strukturprobleme des chinesischen Fußballs?

Eines der größten strukturellen Probleme des chinesischen Fußballs ist die weit verbreitete Korruption auf verschiedenen Ebenen des Systems. Diese reicht von Spielmanipulationen durch Schiedsrichter und Vereinsfunktionäre bis hin zu intransparenten Finanzströmen in Vereinen und Verbänden. Bereits zwischen 2009 und 2011 wurde eine groß angelegte Anti-Korruptions- und Disziplinarkampagne durchgeführt, in deren Verlauf mehr als 50 hochrangige Funktionäre, Schiedsrichter, Vereinsmanager und Nationalspieler verhaftet wurden. Diese Maßnahmen zeigten zwar kurzfristig Wirkung, konnten das tief verwurzelte Problem aber nicht nachhaltig lösen.

Auch danach blieb Korruption ein zentrales Problem. Besonders betroffen sind die chinesischen Profi-Fußballligen wie die Chinese Super League und der chinesische Fußballverband, in denen finanzielle Unregelmäßigkeiten, illegale Spielabsprachen und Vetternwirtschaft an der Tagesordnung sind. Viele Vereine wurden beispielsweise von Unternehmen finanziert, die ihre Investitionen vor allem aus politischen Gründen tätigten und weniger am sportlichen Erfolg oder der sportlichen Entwicklung interessiert waren. Sobald sich die wirtschaftliche oder politische Lage änderte, zogen sich diese Investoren abrupt zurück, was zum Zusammenbruch ganzer Vereine führte. Ein prominentes Beispiel ist der Jiangsu (Suning) FC, der trotz des Meistertitels im Jahr 2020 kurz darauf aufgelöst wurde, weil sich der Hauptgeldgeber, die Suning Group, aus dem Fußballgeschäft zurückzog.

Diese systemischen Probleme der letzten Jahrzehnte haben dazu geführt, dass der Fußball in China in der breiten Öffentlichkeit einen schlechten Ruf hat. Viele chinesische Eltern sehen im Fußball eine unsichere und unattraktive Berufsperspektive für ihre Kinder. In einer stark wettbewerbsorientierten Gesellschaft wie der chinesischen, in der Bildungserfolg und finanzielle Sicherheit oft hohe Priorität haben, erscheint Fußball als wenig aussichtsreicher Karriereweg. Hinzu kommt, dass Fußball von vielen Eltern als gefährlicher Sport wahrgenommen wird, der die Gesundheit ihrer Kinder gefährdet.

Diese negative Wahrnehmung und strukturelle Probleme haben dazu geführt, dass viele Eltern ihre Kinder davon abhalten, regelmäßig oder gar professionell Fußball zu spielen. Zwar gibt es politische Initiativen wie das „Campus Football“-Programm, um mehr Kinder an den Sport heranzuführen, doch ohne die Unterstützung von mehr Eltern bleibt die Beteiligung gemessen an der Gesamtbevölkerung gering. Die geringe internationale Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Nationalmannschaften, insbesondere der Männer, hängt daher auch damit zusammen, dass trotz der hohen Bevölkerungszahl in China die Zahl der Kinder, die regelmäßig Fußball spielen, sehr gering ist.

Ist westlicher Know-How-Transfer, zum Beispiel durch Bundesligavereine, hilfreich?

Der Transfer von deutschem bzw. europäischem Know-how wird von chinesischen Akteuren als potenziell sehr nützlich angesehen, um die sportliche und organisatorische Qualität des nationalen Fußballs zu verbessern. Ausländische Verbände wie der Deutsche Fußballbund (DFB) oder die Deutsche Fußball Liga (DFL) sowie deutsche Bundesligavereine wie der FC Bayern München, Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt und der VfB Stuttgart sind Partnerschaften mit chinesischen Akteuren eingegangen, um Trainingsinhalte, Talentförderung und Managementpraktiken zu vermitteln und im Gegenzug vom chinesischen Markt zu profitieren, beispielsweise durch den Verkauf von Merchandising-Artikeln, den Abschluss von Sponsorenverträgen und den Verkauf von Übertragungsrechten für hohe Summen.

Die bisherigen Entwicklungen zeigen jedoch, dass diese Internationalisierungsbestrebungen der Fußballvereine und die sportdiplomatischen Bemühungen der Fußballverbände nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen führen. Ein Grund dafür sind unterschiedliche politische und kulturelle Erwartungen. Ein bekanntes Beispiel ist, dass im Rahmen der deutsch-chinesischen Fußballkooperation zwischen dem DFB und chinesischen Akteuren, die seinerzeit von Xi Jinping und Angela Merkel persönlich initiiert worden sein soll, bei einem Gastspiel der chinesischen U20 in Deutschland gegen einen Regionalligisten Tibet-Fahnen gehisst wurden. Die darauffolgenden emotionalen Reaktionen und Interaktionen führten zur Beendigung der Kooperation und zu erheblichen finanziellen Einbußen für den DFB.

Ein weiteres Problem scheint zu sein, dass ausländische Fußballvereine auf langfristige sportliche Entwicklung und Marktintegration in China setzen, während chinesische Kooperationspartner oft kurzfristige Ergebnisse erwarten, die zur Erfüllung politischer Vorgaben beitragen und ihnen möglicherweise Karrieremöglichkeiten eröffnen. Diese Diskrepanz führt dazu, dass ausländische Praktiken nicht immer erfolgreich auf den chinesischen Kontext übertragen werden können. Trotz dieser Herausforderungen haben einige Kooperationen, insbesondere im Bereich der Jugendförderung, positive Wirkungen gezeigt, wie z.B. das Programm „Bundesliga Dream China“ zwischen der DFL und dem chinesischen Fußballverband.

Info:

Ilker Gündogan: The Politics of Football in China – Institutional Change and Political Steering under Xi Jinping, Palgrave Macmillan, 204 Seiten, rund 139 Euro (Hardcover), rund 111 Euro (eBook).

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