Sören Urbansky (45) und Martin Wagner (34) sind sich erstmals bei einem Spaziergang durch die Berkeley Hills in Kalifornien begegnet. Urbansky leitete damals das Pazifikbüro des Deutschen Historischen Instituts Washington, Wagner recherchierte in Stanford. Natürlich kannten sie sich schon vorher – aber nur durch das Lesen ihrer Veröffentlichungen. Beide haben nämlich das gleiche Forschungsobjekt – die chinesisch-russischen Beziehungen. Urbansky ist seit 2023 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, Wagner wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Auf ihrem Spaziergang reifte die Idee, gemeinsam ein Buch über die Beziehungen zwischen China und Russland zu schreiben. Am 24. Februar ist es erschienen. Es ist ein Sachbuch, das sich an die breite interessierte Öffentlichkeit wendet, sagen die Autoren in einem Zoom-Gespräch mit CHINAHIRN. Das Buch ist in der Tat angenehm feuilletonistisch geschrieben. In zwölf Kapiteln werden die Beziehungen beider Länder anhand jeweils eines historischen Ereignisses erläutert – beginnend mit 1618 und endend mit Kyjiw 2022.
Ihr Buch beginnt im Jahr 1618, als damals der erste Gesandte Moskaus in Peking auftauchte. Wie hat sich seitdem das Verhältnis der beiden Nachbarländer entwickelt?
Wagner: Es war stets ein Wechselspiel von Nähe und Distanz. Russland und China waren keine Überseeimperien. Sie betrieben Binnenexpansion, dehnten sich also immer wieder zu Lasten des Nachbarns aus. Das führte stets aufs Neue zu Grenzkonflikten und das brachte sie zeitweise in Gegnerschaft.
Urbansky: Ja, es gab ein Auf und Ab in den Beziehungen. Zu Beginn der 1950er Jahre waren die Beziehungen recht eng, heute bezeichnen beide in offiziellen Verlautbarungen wieder als Freunde, zumindest für die Partner, nicht für uns.
Später in den 1950er Jahren zerbrach aber die Freundschaft. Kann das wieder passieren?
Urbansky: Damals haben sich Mao und Stalin über den richtigen Weg des Kommunismus zerstritten. Aber anders als bei Mao und Stalin teilen Xi und Putin keine gemeinsame Ideologie. Sie können sich deshalb weltanschaulich nicht so sehr in die Quere kommen. Das ist ein Vorteil.
Wie schätzen sie das aktuelle Verhältnis der beiden Staatsführer ein? Begegnen sich Xi und Putin auf Augenhöhe?
Urbansky: Auf dem diplomatischen Parkett sind beide bemüht, sich als ebenbürtig darzustellen. Beispiel: Der erste Staatsgast nach Beginn der Corona-Pandemie in China war Putin. Das war für ihn unglaublich wichtig. Chinas Führung hat ihm diese Bühne geboten, weil das Peking nichts kostete. Aber hinter verschlossenen Türen wird knallhart verhandelt – zum Beispiel über die Rohstoffspreise.
Wagner: Das war auch schon zu Zeiten von Mao und Stalin so. Das belegen Protokolle aus jenen Zeiten. Nach außen zeigte man sich freundschaftlich verbunden, aber intern wurde heftig gerungen und gestritten.
Haben denn die beiden Staatschefs derzeit gemeinsame Interessen?
Wagner: Ja, ganz zentral ist das gemeinsame Ziel der Schwächung des Westens.
Urbansky: Aber dieses gemeinsame Ziel verdeckt den Blick auf die Konflikte zwischen beiden Staaten.
Welche Konflikte sehen Sie?
Urbansky: Zum Beispiel in Zentralasien. Diese Länder – alles ehemalige Sowjetrepubliken – hatten nach Erringen der Unabhängigkeit 1991 faktisch keine Handelsbeziehungen mit China. Inzwischen ist die Volksrepublik aber deren größter Handelspartner. Es gibt zwischen China und Russland eine Absprache, wonach China in dieser Region ökonomisch aktiv sein darf, nicht aber militärisch. Das versucht aber China nun Stück für Stück zu unterlaufen, was Russland nicht gefallen kann. Ein zweites Konfliktfeld ist die Arktis, wo sich China zum Anrainerstaat erklärt hat. Auch das bietet Konfliktpotential zwischen den beiden Staaten. Aber auch der Einsatz nordkoreanischer Truppen auf russischer Seite im Krieg gegen die Ukraine kann Chinas Führung nicht gefallen.
Wagner: Ich sehe noch einen weiteren möglichen Konfliktpunkt – die unterschiedlichen Vorstellungen von der internationalen Ordnung. Mittelfristig decken sich Chinas und Russlands Ziele: die Bekämpfung der jetzigen liberalen Weltordnung. Langfristig stehen sie im Widerspruch: Russland strebt nach einer „multipolaren“ Ordnung mit Moskau, Peking, Washington und Neu-Delhi als Zentren. China hingegen will eine Großmachtordnung mit nur zwei Playern: China und den USA.
Aber im Krieg gegen die Ukraine unterstützt China Russland…
Wagner: China versteht sich als Alliierter Russlands. Aber bei den Vereinten Nationen stimmt China selten mit Russland, enthält sich stattdessen meist der Stimme. Ich würde das pro-russische-Neutralität nennen. Aus chinesischer Sicht ist China kein völliger Beistandspartner. Und China ist auch nicht bereit alles zu geben, was Putin will.
Und wie sehen sich die beiden Völker gegenseitig?
Urbansky: Die beiden Gesellschaften bleiben auch heute einander fremd – nicht nur, weil sie unterschiedlichen Kulturkreisen entstammen. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die geografische Distanz: Zwar teilen China und Russland eine über 4000 Kilometer lange Grenze. Doch die Grenzregion ist dünn besiedelt. Bis heute gibt es entlang der Flussgrenze nur zwei Brücken, was den direkten Austausch bis heute erschwert. Im 20. Jahrhundert blieben die Kontakte zwischen beiden Völkern spärlich, nicht zuletzt, weil die politischen Zentren den Austausch erschwerten. Über Jahrzehnte hinweg war das gegenseitige Bild von Vorurteilen geprägt. Erst in den letzten Jahren hat sich die Wahrnehmung Chinas in Russland grundlegend gewandelt – auch, weil sich China selbst tiefgreifend verändert hat. Heute reisen chinesische Touristen als vergleichsweise wohlhabende Besucher nach Russland und verdeutlichen damit Chinas wirtschaftlichen Aufstieg. Doch gerade diese ökonomische Überlegenheit schürt in Russland mancherorts weiterhin die alte Angst vor der „gelben Gefahr“.
Info:
Sören Urbansky und Martin Wagner: China und Russland – Kurze Geschichte einer langen Beziehung, 329 Seiten, Suhrkamp, 26 Euro.
Wer die beiden Autoren live erleben will: Am 4. März (18-20 Uhr) stellen sie ihr Buch vor und diskutieren mit Julia Langbein (ZOiS) und Ex-BotschafterVolker Stanzel (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP). Ort: Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Mohrenstraße 60, Berlin.