Werden in den deutschen Medien – was China anbetrifft – Nachricht und Meinung manchmal vermischt? Zwei Stichproben bestätigten meine ungute Vermutung, dass dem so ist. Eine große deutsche Wirtschaftszeitung zitierte kürzlich eine Rede von Xi Jinping. Die Wiedergabe hatte den Tenor: Xi stelle den unaufhaltsamen Niedergang des Westens und den ebenso unaufhaltsamen Aufstieg Chinas gegenüber. Die Welt solle unter Chinas Führung kommen. Und auch das noch: China machte diese Kampfansage gleich am Neujahrstag.
Passt doch – oder? „So ist China unter Xi“, mögen viele Leser sich dabei gedacht haben. Tatsächlich hatte Qiushi, die ranghöchste parteitheoretische Publikation der KP Chinas, am 1. Januar eine frühere Rede von Xi veröffentlicht. Ein großer Leitartikel zum Jahresbeginn oder, wie in diesem Fall, das Drucken einer offiziellen Rede des KP-Generalsekretärs ist eine langjährige Praxis. Aber im Mittelpunkt stand immer die innenpolitische Agenda. War es diesmal ganz anders?
Die Rede war mit über 12 000 chinesischen Schriftzeichen unfassbar lang. Es ging zunächst in aller Ausführlichkeit um die längst bekannte historische Herleitung des chinesischen Wegs der Modernisierung. Der zweite Teil war dann für China-Beobachter interessanter. Dort wurden sechs Spannungsfelder anhand aktueller Herausforderungen analysiert, jeweils unter dialektischen Überschriften wie „Effizienz und Gerechtigkeit“, „Autarkie und Öffnung“ sowie „Dynamik und Ordnung“. Auch die Phrase „东升西降“ (The East Rises and The West Declines) kam darin einmal vor. Aber noch im selben Absatz folgte der Satz: „Wir haben weder die Absicht noch den Wunsch, das chinesische Modell zu exportieren.“
Nun kann man, zumal als kritischer Journalist, natürlich die gegenteilige Meinung vertreten und auch die Glaubwürdigkeit der Thesen anzweifeln. Die Leser haben es frei zu entscheiden, ob sie diese Meinungen teilen oder nicht. Xis Rede jedoch als eine zum Neujahr an die ganze Nation gerichtete anti-westliche Motivationsrede umzudeuten, ist dagegen einfach nicht korrekt. Das ist offensichtlich für alle, die sich die Mühe machen, den besagten chinesischen Text tatsächlich durchzulesen. Nur: 99,99 Prozent der deutschen Leserschaft können solche Quellenstudien nicht selbst betreiben. Für sie zählte eben nur das, was im Bericht stand. Und was da stand, „passt ins Bild“.
Wenige Tage später, wieder eine Topadresse der deutschen Medienhäuser. Es ging um Chinas Haltung nach dem Trump-Putin Telefonat – ein wichtiges Thema. Viele in Deutschland hatten sich die Frage gestellt, was China dazu gesagt hätte. Siehe da: Global Times, „eine Parteizeitung“, so der Korrespondent, soll in diesem Zusammenhang gelobt haben, dass Trump die „regelbasierte Ordnung“ aufgebe. Wieder passt die „Nachricht“ bestens in das vorherrschende Narrativ: China freut sich, weil die regelbasierte internationale Ordnung „schon immer ein Dorn in Pekings Auge“ gewesen sei, ergänzte der Autor.
Durch Zufall las Ihr Kolumnist am Tag zuvor genau diesen zitierten Artikel. Also konnte er leicht feststellen, dass die gedruckte Darstellung mehrfach nicht richtig war. Es war kein Leitartikel der Parteizeitung, sondern ein Gastkommentar eines Politikwissenschaftlers aus der zweiten Reihe. Der entsprechende Hinweis stand fett gedruckt direkt darunter, wie es bei einem sogenannten „op-ed“ in den amerikanischen Zeitungen auch üblich ist: „Es handelt sich um die Meinungsäußerung des Gastkommentators“.
Außerdem schrieb dieser chinesische Autor in der Global Times noch wörtlich: „In einer multipolaren Welt erfordert die Lösung der Ukraine-Krise nicht nur die Anstrengungen der Vereinigten Staaten und Russlands, sondern auch die Berücksichtigung der Interessen und Anliegen der Ukraine und Europas. Zwar weist die liberale internationale Ordnung gewisse Defizite auf, doch eine völlige Rückkehr zum ”Realismus“ bzw. zum „Recht des Dschungels“ ist auch gefährlich. Daher bedarf es zur Lösung des Konflikts weiterhin der gemeinsamen Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft.“ Kein Wort zu dieser Ausführung in dem Bericht.
Gegen eine grundsätzliche skeptische Haltung des Korrespondenten wäre auch hier nichts einzuwenden. Falsch ist dagegen, das eigene Misstrauen als Nachricht zu verpacken. Eine höchst selektive Wiedergabe der Quelle ließ, gewollt oder nicht, ein verfremdetes Bild entstehen, weit weg vom Original.
Wieder konnten 99,99 Prozent der Leser selbst keine Quellenstudien hierfür betreiben. Durch die Vermischung von Nachrichten und Meinungen gingen in diesem Fall wichtige Hinweise verloren. Denn Chinas Reaktion auf die neuerliche Annährung zwischen USA und Russland war komplexer und nuancierter. Die Zurückhaltung zeigte sich auch in der Tatsache, dass zunächst nirgends ein Leitartikel erschienen war, was als offizielle Stellungnahme zu verstehen gewesen wäre. Ein von eigener Meinung bestimmter Bericht übersieht nicht nur die wichtigen Feinheiten. Er führt womöglich auch zu Fehlinterpretationen bei den Lesern daheim.
Und was passiert in den Köpfen der Empfänger, wenn diese Art „fließender Grenze“ zwischen Nachrichten und Meinungen sich häufiger wiederholt?
* Hier erfahren Sie mehr über die Kolumne und deren Autor: