In die Berliner Elefantenrunde am Abend des Wahltages schaffte es China hörbar nur mit einer Randbemerkung des erfolglosen grünen Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Er warnte vor Chinas Wettbewerbsfähigkeit. Kaum einer hörte hin. Und doch spielte China unausgesprochen eine große Rolle. Die meisten in dieser für die deutsche Politik traditionell stilprägenden Runde waren sich schnell einig, dass Deutschland nach der „Zeitenwende“, die mit dem den russischen Angriff auf die Ukraine begann, heute einen „Epochenbruch“ erlebe, den die USA durch die Abkehr von ihren europäischen Verbündeten auslösen. Dabei preschte der designierte Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende Friedrich Merz am weitesten vor: Nie hätte er gedacht, „dass ich das mal sagen würde in einer Fernsehsendung“. Dass er nämlich mit einer neuen Regierung „Unabhängigkeit von den USA erreichen“ wolle. Nahm man Merz beim Wort, dann konnte man sich die Folgen für die deutsche und europäische China-Politik leicht vorstellen. Berlin und Brüssel würden in Zukunft vorsichtiger gegenüber Peking auftreten. Wer vor offener Kamera mit den USA und Russland streitet, will nicht noch Zoff mit China.
So sehr stehen die vielen für uns sichtbaren Facetten des Epochenbruchs gerade im Vordergrund, vor allem die spektakuläre Annäherung zwischen den USA und Russland, dass Chinas vermutlich ja sogar ursächliche Bedeutung für die Ereignisse bei uns kaum diskutiert wird. Das ist in den USA anders. So will uns der US-Außenpolitik-Experte Michael Kimmage, Leiter des Wilson Center’s Kennan Institute, dieser Tage auf der Webseite von Foreign Affairs erklären, dass Donald Trump derzeit nur den Beispielen Wladimir Putins und Xi Jinpings folgt, die „den starken Führer, die große Nation, die stolze Zivilisation“ nach einer Ära der Globalisierung wieder in den Mittelpunkt stellen. Dazu passt, dass Trump Europa übergeht, um sich zwischen Moskau und Peking zu stellen: „The one thing you never want to happen is you never want Russia and China uniting. I’m going to have to un-unite them, and I think I can do that”, sagte Trump schon vergangenen Oktober in einem Interview mit dem ehemaligen Fernsehmoderator Tucker Carlson. Ist das also die große, neue US-Strategie von Trump: Wie einst Vorgänger Richard Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger einen Keil zwischen die Großmächte China und Russland zu treiben? In der amerikanischen Diskussion wird diese Strategie als „Reverse Nixon“ bzw. „Reverse Kissinger“ tituliert.
Europa hat kaum Zeit darüber nachzudenken. „Die Welt wartet nicht auf uns“, lautet derzeit das geflügelte Wort zur bevorstehenden Regierungsbildung in Berlin. Doch es ließe sich sagen: China wartet auf Berlin. Kaum anders ließ sich der Auftritt des chinesischen Außenministers Wang Yi auf der Münchener Sicherheitskonferenz in diesem Jahr verstehen. Im Schatten der das westliche Bündnis erschütternden Rede von US-Vize-Präsident J.D. Vance erregte Wang in München natürlich kaum Aufmerksamkeit. Aber seine Botschaft war klar: „There is no fundamental conflict of interest or geopolitical conflict between China and the EU”, sagte Wang und fügte hinzu: „A multipolar world is not only a historical inevitability, it is also becoming a reality.” Mit anderen Worten: Liebe Europäer, wenn ihr Probleme mit den USA und Russland habt, mit uns braucht ihr sie nicht zu haben.
Nicht alle überhörten Yi. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte schon auf dem vorausgegangenen Weltwirtschaftsforum in Davos überraschend wohlmeinende Töne gegenüber Peking angestimmt. Im Handelsblatt empfahl nun der Berliner Politologe Herfried Münkler unter dem Eindruck der Sicherheitskonferenz über eine Wiederannäherung an China zumindest „nachzudenken“. Zuvor hatte schon Noch-Wirtschaftsminister Habeck ungewöhnlich klar gefordert: „Europa sollte nicht am Rockzipfel der USA hängen, sondern China gegenüber eigenständig handeln.“ Plötzlich schien also der von der chinesischen Außenpolitik stets hochgehaltene Begriff des Multilateralismus auch bei uns wieder eine gewisse Konjunktur zu haben. Er impliziert die Eigenständigkeit unterschiedlicher Pole und weniger die Aufteilung der Welt in Demokratien und Autokratien, wie sie in der Vergangenheit bei Münkler und Habeck durchaus anklang.
Findet also im Zuge des sogenannten Epochenbruchs ein noch verstecktes Umdenken in Europa gegenüber China statt? So wie die Versuchung groß war, für die Zeitenwende nicht nur Russland, sondern zumindest teilweise auch China aufgrund seiner Allianz mit Russland zur Verantwortung zu ziehen, so könnte der inzwischen auch ideologische Streit mit den USA heute in Europa den umgekehrten Effekt haben: Ein China, dem nur geringe parteipolitische Einflussnahme innerhalb der EU unterstellt wird, wäre wieder mehr Partner als Rivale.
Info:
Artikel von Michael Kimmage in der aktuellen Foreign-Affairs-Ausgabe:
https://reader.foreignaffairs.com/2025/02/25/the-world-trump-wants/content.html
Rede von Wang Yi auf der Münchner Sicherheitskonferenz: https://www.fmprc.gov.cn/eng/wjbzhd/202502/t20250215_11555665.html?utm_source=substack&utm_medium=email