BILDUNG I Schulfrei am Wochenende?

Revolutionäres gibt es aus diversen Ecken des Landes zu vermelden: In mehreren Städten – darunter auch Hangzhou – sollen die Oberschüler der elften und zwölften Klasse am Wochenende schulfrei haben. Diese Idee löste eine große Diskussion aus, in der sehr unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen. Man kann sich vorstellen, dass in Schülerkreisen der Vorschlag sehr wohlwollend bis euphorisch aufgenommen wurde. Schüler gerade in diesen Klassen so kurz vor dem berühmt-berüchtigten gaokao unterliegen einem gewaltigen Stress (das Abschneiden im gaokao bestimmt den weiteren Lebenslauf der Schüler, denn nur eine sehr gute Note ermöglicht den Zugang zu einer sehr guten Uni und damit möglicherweise eine lukrative berufliche Karriere). Der Alltag dieser Schüler dauert oft von frühmorgens bis spätabends, wenn man all die Nacharbeiten miteinbezieht. Hierfür wurde der Ausdruck 611 geprägt, will heißen: die Schüler sind von 6 Uhr bis abends elf Uhr im Einsatz. Die Folgen dieses brutalen Schulalltags sind schon in jungen Jahren Burnouts, in schlimmen Fällen kommt es zu Selbstmorden. Weil Lehrer mit diesen negativen Folgen fast täglich konfrontiert sind, stehen auch sie der verkürzten Schulwoche aufgeschlossen gegenüber.

Ganz andere Töne hört man dagegen aus den Elternkreisen. Viele Eltern fürchten, dass ihre Kinder bzw. ihr Kind – denn meist ist es ja das Einzelkind – im Hyperwettbewerb mit anderen Kindern zurückbleiben wird. Ein Elternteil drückt es auf Weibo so aus: „If my child takes weekends off, but their competitors don’t, won’t they fall behind?” Da ist was dran. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn es an allen Schulen des Landes das freie Wochenende eingeführt würde und nicht nur an ausgewählten Lehranstalten. Aber dies widerspricht dem seit Jahrzehnten praktizierten pragmatischen Ansatz chinesischer Reformpolitik, gewisse Änderungen erst einmal in ausgewählten Städten und Regionen zu testen und dann bei Erfolg landesweit einzuführen. Ein zweiter Kritikpunkt der Eltern ist die Befürchtung, dass sich am Wochenende ein privater Bildungsmarkt mit außerschulischen Nachhilfe-Angeboten entwickeln würde. Diese könnten sich wiederum nur reiche Familien leisten, weshalb es zu weiteren Ungerechtigkeiten komme. Auch an diesem elterlichen Argument ist was dran. Schon vor Jahren ist die Regierung gegen dieses private Tutorium-Unwesen vorgegangen. Diese Haltung müsste sie nun auch am Wochenende konsequent um- und durchsetzen.

Warum überhaupt diese Neuregelung der Schulzeiten? Beobachter erklären dies mit der Veränderung auf dem Arbeitsmarkt. Bislang hätte das Land vor allem disziplinierte Arbeiter für die Industrialisierung gebraucht. Die Schulen „produzierten“ bisher diesen Typus. Doch jetzt, wo ganz neue Technologien wie zum Beispiel Künstliche Intelligenz entstehen, sei ein anderer Typus gefragt, nämlich der des jungen kreativen Menschen. Diesen produziere das herkömmliche Schulsystem aber nicht, weil es zu starr auf stereotypes Pauken ausgerichtet sei und den Schülern angesichts des Mammutprogramms wenig Freiraum zum (Nach-)Denken lasse. Und diesen Freiraum wollen die Reformer mit einem freien Wochenende schaffen. Doch die Sorge – nicht nur bei den Eltern – geht um, dass die Schüler ihre gewonnene Freizeit eher in den sozialen Medien oder beim Videospielen verbringen statt zum kreativen Nachdenken nutzen.

No Comments Yet

Comments are closed