ZEICHEN DER ZEIT I Heute: 德  dé, „Tugend, Moral, deutsch“ / Von Andreas Guder

Deutschland, Déguó 德国, das „Land der Tugend“ – es ist doch immer wieder aufbauend, die Bedeutung des chinesischen Äquivalents für „deutsch“ zu hören und China-Laien davon erzählen zu können. Tatsächlich ist der chinesische Begriff 德 Jahrtausende älter als die deutsche Sprache. Das Zeichen findet sich bereits auf Bronzeinschriften der Zhou-Zeit, und es ist zentraler, titelgebender Begriff im berühmten Dàodéjīng (oder Tao-te-ching) 道德经, der sich als „Klassiker vom Weg und der Tugend“ übersetzen lässt. Dieses Werk wiederum ist das Fundament der Lehren des Daoismus und wird Lǎozi (Lao-tse) 老子 zugeschrieben – seine Entstehung liegt jedoch im Dunkeln der chinesischen Antike.

Das Zeichen 德 selbst ist aber auch in seiner inneren Struktur von besonderer Schönheit, zeigt es doch mehrere Komponenten, die auf die Urbedeutung des „rechten Weges“ eines jeden Menschen verweisen: Oben rechts sehen wir ein „geradeaus“ blickendes Auge (直 /zhí/ „geradeaus, aufrecht“, ein Auge 目, hier in seiner ursprünglichen, waagerechten Form 罒 mit einer durch ein Kreuz symbolisierten Blickrichtung darüber), darunter ein Herz 心 als Signifikum für seelische Haltungen und Emotionen. Links kommt das Zeichen für den „Weg“ 彳 hinzu: Tugendhaft, 德 , ist, wer aufrechten Blickes den Weg des Herzens beschreitet.

Als man im kaiserlichen China im 19. Jahrhundert zum ersten Mal vom Volk der „Deutschen“ (déyizhì) erfuhr, benannte man dessen Menschen, ihre Nation und Sprache aufgrund des phonetischen Anklangs mit diesem tiefgründigen Zeichen . Wie alle europäischen Kolonialmächte haben sich die Deutschen nicht immer als dieser ehrenvollen Bezeichnung würdig erwiesen. Dennoch hat die unverhoffte Wahl dieses Zeichens sicher mit dazu beigetragen, dass die Deutschen bis heute ein positives Image in China besitzen.

*Andreas Guder ist Professor für Didaktik des Chinesischen sowie Sprache und Literatur Chinas an der FU Berlin

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