Xu Jilin (许纪霖) ist einer der bekanntesten liberalen Intellektuellen Chinas. Der ehemalige Professor der East China Normal University in Shanghai gehört also einem der drei Intellektuellen-Lager Chinas an, die man gemeinhin bei aller Pauschalität folgendermaßen differenziert: Neue Linke, Neo-Konfuzianer und eben die Liberalen. Gerade hat der 68jährige Xu ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Waves of the Past and Future“ (前浪后浪).
Basierend auf diesem Buch hat er dem Tencent Research Institute ein Interview gegeben, das am 22. Januar publiziert wurde. Darin befasst sich Xu mit der jungen chinesischen Generation – den nach 1990 (90 后) und nach 2000 Geborenen (00 后). Dieses Interview wurde dankenswerterweise von Paddy Stephens für Sinification übersetzt. In dem Interview gibt Xu interessante Einblicke in das Denken und Gefühlsleben der jungen chinesischen Generation. Ob diese auf Umfragen unter dieser Generation basieren, bleibt unklar. Thomas des Garets Geddes, der Sinification herausgibt, ist sich auch nicht sicher. Er vermutet im Vorwort: „Given the difficulty these days for researchers to conduct nationally representative surveys on even marginally sensitive issues in China, I assume his conclusions on China’s youth rely mainly on anecdotal evidence and his own personal experience.“
Xu nimmt eine Dreiteilung der Generationen vor: Seine Generation der in den 50er und 60er Jahren Geborenen; die in den 70er und 80er Jahren Geborenen, und eben die junge Generation der nach 1995 Geborenen. Er nennt diese „a generation of Epicureans living for themselves and pursuing their own happiness and well-being.” Sie leben auf sich selbstbezogen. Sie seien wenig anfällig für politische Slogans („red culture“) und auch nationalistischen Tendenzen gegenüber wenig anfällig. Im privaten Bereich sind sie wenig geneigt, längerfristige Beziehungen einzugehen. Er verweist auf die auch im Westen praktizierte situationship (chinesisch: dazi (搭子) und so beschreibt: „Young people are constantly looking for casual partners of various types, whether that is just to eat with, to chat or to sleep with.“ Sie wollen keine tiefen emotionalen Beziehungen eingehen. Stattdessen widmen sie sich der ACG Culture. A steht für Animation, C für Comics und G für Games. Oder sie halten sich Haustiere. Oder sie chatten mit KI.
Es ist kein schönes Bild, das Xu Jilin von der Jugend zeichnet, für die er aber durchaus Verständnis zeigt. Sie hat wie die beiden vorangegangenen Generation nicht am Boom infolge Chinas Aufstieg teilgenommen. Sie lebt in einer Welt der hohen Immobilienpreise, eines schrumpfenden Arbeitsmarktes und industriellen Überkapazitäten. Gewissermaßen fühlt sich der 68jährige Xu schuldig gegenüber dieser Generation: „I do think our generation owes them something. We ate the good apples, that should have been theirs.” Man sollte sie aufgrund ihrer anderen Einstellung nicht verdammen. Im Gegenteil: „They deserve the country’s sympathy, encouragement and understanding. As China´s future, they should be valued, not condemned.”
Chinas Führung scheint anders zu ticken: Das Interview von Xu Jilin fiel kurz nach seiner Veröffentlichung der Zensur zum Opfer.
Info:
Das übersetzte Xu-Interview in Sinification: https://www.sinification.com/p/xu-jilin-on-sexuality-boredom-and und hier Teil Zwei: https://www.sinification.com/p/xu-jilin-on-chinas-intellectuals?utm_source=post-email-title&publication_id=1083330&post_id=159132076&utm_campaign=email-post-title&isFreemail=true&r=1cv&triedRedirect=true&utm_medium=email
Wer tiefer in Xu Jilins Gedankenwelt eintauchen will, dem empfehle ich das von David Ownby herausgegebene und übersetzte Büchlein „Rethinking China’s Rise – A Liberal Critique“, das in der Serie The Cambridge China Library erschienen ist und hier kostenfrei heruntergeladen werden kann: https://api.pageplace.de/preview/DT0400.9781108640657_A34442591/preview-9781108640657_A34442591.pdf