Als bekennender Einkaufsmuffel hatte Ihr Kolumnist lange kein Interesse an Shein und Temu. Kürzlich musste er sich aber für einen Podcast (https://kassenzone.podigee.io/586-china) vorbereiten, dessen Zielgruppe zum Teil im Handel tätig ist. Just in der Woche sorgte Shein erneut für Schlagzeilen, auch in den deutschen Medien: „Billigversender Shein macht offenbar Abstriche beim Börsenwert“. Man spekulierte darüber, ob Shein bei dem geplanten Börsengang in London (inzwischen auf das zweite Halbjahr verschoben) mit 70, 80 oder vielleicht doch „nur“ 50 Milliarden Euro bewertet würde. Aber auch bei 50 Milliarden Euro wäre Shein sechsmal so viel wert wie Zalando oder ungefähr so viel wie Bayer und Henkel zusammen! Ist unsere Welt wirklich so verrückt geworden, dass „ein Billigversender“ einen so hohen Wert erzielen kann? Oder hat man das Unternehmen einfach nicht besser verstanden? Wan Hua Zhen ist dieser Frage nachgegangen.
2008 startete Chris Xu (许仰天) in Nanjing einen winzigen Cross-Border-E-Commerce-Shop mit dem Namen „SheInside“, der sich auf günstige Brautmode spezialisierte. Die meisten Chinesen kennen Shein bis heute kaum, weil die Zielgruppe von Anfang an die internationalen Verbraucher waren. Wer die vielen Berichte über die Anfänge von Shein liest, stößt auffallend häufig auf „Google“, „Facebook“ und „Instagram“. Chris Xu beschäftigte sich nämlich intensiv mit Google SEO (Search Engine Optimization) und dem „Keyword Planner“, schon während er Brautkleider für 30 Dollar verkaufte (damaliger Ladenpreis im Westen: 300 Dollar). Damals, 2008, hatten die meisten internationalen Konsumgüterunternehmen noch nicht mal die erste Taskforce für Digitales Marketing. Weniger Jahre später fing Xu an, Instagram-Nutzerinnen auszusuchen und baute sie zu Mini-Influencerinnen (微网红) für sein schnell wachsendes Geschäft – inzwischen auf Damenmode umgestellt – auf.
Als in Deutschland vor mehr als zehn Jahren der wundersame Aufstieg von Amazon und Alibaba bestaunt wurde, feilte Chris Xu bereits an das Geschäftsmodell der nächsten Generation: Social Commerce, also die Verzahnung von Sozialmedien und E-Commerce. Weder Jeff Bezos noch Jack Ma hatte den Trend damals kommen sehen. Erst 2022, als Shein in den USA mehr Downloads als Amazon hatte und täglich über 30 Millionen aktive Nutzer verfügte, wurde der „Billigversender“ (der in den USA nie so genannt wurde) zum Wettbewerber Nummer Eins erklärt.
Nicht ohne Ironie: Chris Xu trieb die Entwicklung zielstrebig voran auf dem chinesischen Festland, wo der Zugang zu Google, Instagram & Co. gesperrt war und immer noch ist.
Xu war nicht der Einzige mit der Vision. Auch Pinduoduo (PDD)-Gründer Colin Huang setzte auf Social Commerce und nahm Alibaba bereits vor der Corona-Pandemie erhebliche Marktanteile ab. Temu, Sheins aktuell größter Konkurrent, ist eine Tochter von PDD, extra geschaffen, um Shein herauszufordern.
2018 hatte Jeff Bezos in einem NBC-Interview gesagt, „all overnight success takes about 10 years.“ Das trifft auf Amazon genauso zu wie auf Shein. 2015 siedelte Chris Xu sein Unternehmen nach Guangzhou um. Der Shein-Umsatz durchbrach erstmals die Milliarden-Grenze, allerdings in RMB. Ende Februar 2025 gab Shein die Zahlen für das Jahr 2024 bekannt: Der Umsatz beträgt inzwischen 38 Milliarden Dollar, ein Plus von 19 Prozent. Der Gewinn aber sank um 40 Prozent auf nur eine Milliarde Dollar. Der Hauptgrund dafür: Temu.
Vom 30-Dollar-Brautkleid bis zum profitablen Milliarden-Konzern in nur 15 Jahren, und das gänzlich ohne China als Absatzmarkt – diese wundersame Erfolgsgeschichte in erster Linie mit „billig“ zu erklären, ist zu kurz gegriffen.
Das Shein-Modell nahm das klassische „Textil- und Bekleidungsgeschäft“ („the fashion industry“ klingt irgendwie besser) komplett auseinander. Social Commerce ist die Brücke zum Verbraucher. Hier traf Shein schon früh die Nerven der GenZ in so unterschiedlichen Märkten wie USA, dem Nahen Osten und Südamerika. Der hohe Anteil an nutzergenerierten Inhalten auf der Shein-Plattform ist Beweis für den Erfolg. Dabei ist die länder- und kulturübergreifende Markenbindung immer der Domain westlicher Firmen gewesen. Warum gelingt es ausgerechnet Shein, was den meisten Unternehmen aus China nicht gelang? Der offizielle Firmensitz in Singapur kann nicht der Hauptgrund gewesen sein. Und ist diese Bindungskraft nachhaltig? Mehr Nachforschungen sind notwendig, um darauf zu antworten.
Ebenso radikal innovativ und radikal konsequent ist das „Factory-to-Consumer“-Konzept in der Lieferkette: Alle Zwischenhändler wurden ausgeschaltet. Dass diese sich darüber nicht freuen können, ist allzu verständlich, dafür umso mehr die 300 Millionen Shein-Nutzer und -Fans. Theoretisch hätten die langjährigen europäischen Marktführer H&M und vor allem Zara (Inditex) genauso und früher auf dieselbe Idee kommen können. Warum taten sie es nicht?
Lange bevor Künstliche Intelligenz in aller Munde war, integrierte Shein datenbasierte Algorithmen („算法“) in seine Kerngeschäftsprozesse, um Verbrauchertrends schon bei der Entstehung zu erkennen. Das Ergebnis: eine unschlagbare Geschwindigkeit – vom Aufspüren der besten Ideen bis zur Auslieferung an den Kunden. Sheins chinesische Zulieferer wurden in den Medien zitiert: „Erst mit Shein haben wir gelernt, dass Bestseller kein Zufall sind. Sie sind berechenbar.“ Mit den höheren Erfolgschancen bindet Shein wiederum die besten Zulieferer des Landes längerfristig an sich.
Sheins Produkte sind erstaunlich preiswert. Das ist das Resultat eines ausgetüftelten Zusammenspiels aus Datenanalyse, KI, digitalem Marketing und einer durchoptimierten Lieferkette. Spätestens an dieser Stelle dürfte der Vorwurf aufkommen, dass diese Kolumne den „schlimmsten Fashion-Konzern der Welt“ beschönige. Fast Fashion? Pfui! Und was ist mit den Umweltsünden und Arbeitsbedingungen? Nun, Ihr Autor ist die Frage nachgegangen, ob „Billigversender“ der richtige Begriff wäre, um das Shein-Phänomen zu entschlüsseln bzw. zusammenzufassen. Die Antwort ist deutlich: NEIN.
Sheins niedrige Preise haben viele Ursachen, und Billiglöhne sind längst nicht mehr der Hauptfaktor. Aktuelle Stellenanzeigen von Shein-Zulieferern in Guangzhou nennen Monatslöhne von 8 000 bis 13 000 RMB (100o bis 1650 Euro). Dazu kommen freie Unterkunft und Verpflegung. Allerdings gibt auch nur zwei Tage im Monat frei. Zum Vergleich: In Vietnam verdienen Textilarbeiter weit weniger als die Hälfte, in Bangladesch oder Indien nochmals 50 Prozent weniger. Doch trotz deutlich günstigerer Löhne anderswo produziert Shein weiter hauptsächlich in China, wegen des ausgereiften Textil-Ecosystems und der Infrastruktur.
Auch die „Umweltsünden“ verdienen eine differenziertere Betrachtung. Sheins hohe Effizienz resultiert aus der genauen Erfassung von Kundenwünschen und – nachfragen sowie einem agilen Bestandsmanagement in Echtzeit. Die Strategie namens „小单快反“ (kleine Testbestellung, schnelles Markt-Feedback) spart erhebliche Ressourcen und reduziert Verschwendungen. Sie schließt Missstände nicht aus, wirkt ihnen aber stark entgegen, und zwar aus inhärenten Geschäftsinteressen.
Nein, man muss Shein nicht lieben. Ihr Kolumnist wird dort weiterhin nicht einkaufen, nicht aus moralischer Überlegenheit, sondern aus schlichtem Desinteresse. Doch Shein als Management-Geschichte, davon kann man einiges lernen – auch wenn man nicht im Einzelhandel tätig ist.