Noch ein paar Mal schlafen, dann ist Joe Biden im Amt. Endlich. Die Transatlantiker frohlocken, ich auch. Die westliche Wertegemeinschaft steht wieder. Und was machen die undankbaren Europäer? Sie schließen inmitten des amerikanischen Machtvakuums ein Abkommen mit China ab. Hätten sie nicht gefälligst warten können, bis Biden ein paar Wochen oder Monate im Amt ist? Und dann hätten wir eine gemeinsame Politik gegenüber China machen können? Eine gemeinsame Politik setzt aber gemeinsame Interessen voraus. Und die sind zumindest in der Handelspolitik nicht unbedingt gegeben. Die USA wollen möglichst viele ihrer Produkte in China verkaufen, wir Europäer auch. Sie bieten Boeings an, wir Airbusse. Sie wollen Fords verkaufen, wir Volkswagen. Die Amerikaner wollen ihren Banken Zugang zum chinesischen Markt verschaffen, die Europäer ihren Kreditinstituten. Insofern hat die EU in ihrem Interesse – ja, auch die EU hat Interessen – gehandelt, als sie das Investitionsabkommen mit China kurz vor Jahresende abgeschlossen hat, das europäischen Unternehmen einen besseren Zugang zum chinesischen Markt ermöglicht. Und das Abkommen ist auch ein Beweis der strategischen Autonomie Europas. Dies darf nicht mit Äquidistanz verwechselt werden, also gleichem Abstand zu den USA und China. Keine Frage: Die Amerikaner sind uns viel näher. Zumindest das Biden-Amerika und Nicht-Trump-Lager der Republikaner. Noch ist nicht klar, wie die China-Politik Bidens letztendlich aussehen wird. Sie wird aber sicher nicht so erratisch und konfrontativ sein wie unter Trump. Der designierte Sicherheitsberater Jake Sullivan spricht von China als strategischem Rivalen, redet aber auch gleichzeitig von Kooperation. Das ist nicht weit weg vom europäischen Ansatz, der im berühmten Kommissionspapier vom März 2019 definiert wurde. Darin wird China gleichzeitig als Partner, Rivale und Wettbewerber bezeichnet. Die Frage ist nur, welches der drei Worte hier und jenseits des Atlantiks Priorität haben und letztendlich die jeweilige Politik bestimmen wird.
Wolfgang Hirn