Jan Turowski lebt seit längerer Zeit in China. Derzeit ist er Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beijing. Er verfolgt auch dort aufmerksam die deutschen Medien: „In den letzten zehn Jahren habe ich – in China lebend – deutsche Medienberichte mit der mich umgebenden Umwelt abgleichen können“. Das Urteil beim Vergleich fällt wenig schmeichelhaft für die Journalisten aus. Er empfinde die deutschen Medienberichte bei aller Richtigkeit und berechtigter Kritik häufig als unterkomplex. Bei der Pandemiebekämpfung hätten die deutschen Medien „ein komplett anderes Bild“ als die von ihm empfundene Realität gezeichnet, schreibt Turowski im Vorwort der Studie „Die China-Berichterstattung in deutschen Medien im Kontext der Corona-Krise“. Die Studie wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Auftrag gegeben und von der emeritierten Professorin Mechthild Leutner (FU Berlin) und den zwei Doktoranden Jia Changbao und Xiao Minxing durchgeführt. Sie untersuchten 747 Beiträge in sieben deutschen Leitmedien im Zeitraum Januar bis August 2020. Es ist die erste systematische Untersuchung der deutschen China-Berichterstattung seit der berühmten Studie der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahre 2010. Die Autoren bemängeln, dass die Medien „einen Gegensatz zwischen Partei- und Staatsinteressen (Machterhalt und Stabilität), die sich in der Person Xi Jinpings
manifestieren, einerseits und den Interessen der Bevölkerung (Freiheit und Demokratie) andererseits“ konstruierten. Diese Argumentation zöge sich durch nahezu alle Beiträge. Außerdem würden „die Geschehnisse in China … von einer nicht näher spezifizierten «westlichen» Werteagenda und eurozentristischen Perspektive heraus bewertet.“ Es erfolge quasi eine systematische «Messung» Chinas mit deutschen, europäischen, westlichen Werten, und damit werde der Gegensatz von «wir» und «China» als «das Andere» betont, wobei vielfach «das Andere» als nicht gleichrangig dargestellt wird. Genau diese Reduktion der Rolle Chinas auf die eigenen (westlichen) Vorstellungen und Erwartungen» führe zur Tradierung von Klischees und Ängsten, heißt in der Studie. Jan Turowski schreibt: „Uns ist bewusst, dass … die Forschungsergebnisse auf Widerspruch und Ablehnung stoßen werden.“ Die Studie ist ein wichtiger Beitrag zu einer bislang nicht geführten Diskussion.
Info:
Die Studie wird am 21. Oktober (16-17.30 Uhr) in der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Straße der Pariser Kommune 8A) vorgestellt. Anschließend gibt es eine Diskussion mit Mechthild Leutner, Helwig Schmidt-Glintzer und Heinz Bierbaum.
Hier noch der Link zur Studie der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahre 2010: https://www.boell.de/sites/default/files/endf_studie_china-berichterstattung.pdf