GESELLSCHAFT I Die Jungen sollen lernen, die Alten dürfen zocken / von Imke Vidal

Chinas Jugend liebt Videospiele. Und zwar so sehr, dass Vater Staat sich ernsthaft Sorgen macht. Wenn aber der chinesische Staat sich sorgt, kann das erstaunliche Formen annehmen. Um der Abhängigkeit von Videospielen bei Jugendlichen entgegenzuwirken, erließ China bereits mehrfach Gesetze, die den Anbietern von Videospielen einiges abverlangt. Peu à peu wurden die Regelungen in den letzten Jahren verschärft. Die Gaming-Industrie muss sich inzwischen an viele Vorgaben halten. In welchem Zeitraum Minderjährige spielen dürfen und für wie lange, all dies müssen die Firmen nun beachten und, unter Androhung empfindlicher Strafen im Falle der Nichteinhaltung, auch umsetzten. Um dies überhaupt gewährleisten zu können, mussten erst die rechtlichen und technischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit kein Gamer mehr anonym spielen kann. Inzwischen kann nur noch spielen, wer sich mit seinen personenbezogenen Daten angemeldet hat und seine ID-Kartennummer angibt. Die Daten überprüft der Staat. Tricksen scheint zwecklos. Sowohl der Staat als auch die Spielemacher wissen genau, wer wie lange spielt, wer noch Zeit übrig hat und wessen Zeitmaß voll ist. Chinas Jugend soll lieber lernen, als bei Videospielen Zeit zu vergeuden, so die Devise. Und glaubt man der Hirnforschung, so sind die drastischen Vorgaben in China gar nicht so verkehrt, wenngleich andere über die damit verbundene Einschränkung persönlicher Freiheiten den Kopf schütteln. Die Spielehersteller machen mit. Das zeigt der vorauseilende Gehorsam, mit dem manch ein Hersteller schon vor Inkrafttreten der neuesten Verordnungen die Spielzeit für Minderjährige in den eigenen Spielen reduzierte, manchmal sogar drastischer als vom Gesetzgeber gefordert. Dabei handeln die Hersteller durchaus im eigenen Interesse. Aber das Überleben der Branche hängt nicht nur von Minderjährigen und jungen Erwachsenen ab. Immerhin ist China eine alternde Gesellschaft mit etwa 250 Millionen über 60-Jährigen. Und Chinas Alte scheinen das Gamen für sich entdeckt zu haben. Ein Trend, der sich in der Pandemie noch einmal verstärkt hat. Rentner, die sich vor der Pandemie mit Freunden trafen, um Mah-Jongg zu spielen oder im Park Sport zu treiben, griffen während der Pandemie einfach zur Konsole.

Schon länger dabei sind Yang Laotou (Opa Yang) und Jifeng Daye (Alter Sturm) – beide Namen sind Pseudonyme. Auf der chinesischen Videoplattform Bilibili sind die beiden „Opas“ bereits kleine Stars mit reichlich Followern. Die Kommentare unter ihren Videos zeigen, wie kurios bis lustig es junge Gamer finden, dass Männer ihres Alters Videospiele spielen. Dabei schwingt auch Bewunderung mit und die Erkenntnis, dass man eben bis ins hohe Alter gamen kann. Warum auch nicht? Als Rentner hat man schließlich mehr Zeit. Und diese Art des Gamens, bei der man im ständigen Austausch mit anderen Mitspielern ist, könnte sogar eine Möglichkeit sein, soziale Kontakte zu ersetzen. Viele alte Menschen in China leben allein. Die Abhängigkeit, die der Staat bei den Minderjährigen verhindern will, ist aber auch für die Alten eine Gefahr. Trotzdem: In den chinesischen Medien finden sich zahlreiche Artikel, die darin auch eine Chance sehen, etwa als gezieltes Training gegen Alterserkrankungen wie Demenz, aber auch zur Schulung der Motorik und Reaktionsfähigkeit könnten Videospiele gezielt eingesetzt werden. Auch die Spieleentwickler haben nun ihre Chance erkannt und nehmen die älteren Gamer als neue Zielgruppe wahr. Das ist nötig, denn selbst erfolgreiche Gamer wie Yang Laotou und Jifeng Daye stoßen an ihre Grenzen, wenn sie ständig neue Updates für die Spiele benötigen oder im Spieltext englische Begriffe auftauchen. Außerdem ist die Schrift oft klein. Ältere Spieler brauchen dann länger und verlieren Zeit. Da wollen viele Spielemacher nun nachbessern. Branchenkenner rechnen damit, dass sich Videospiele künftig gezielt an den Interessen der über 60-Jährigen orientieren werden. Das legt beispielsweise ein Bericht vom Baidu Institute of Marketing (BIM) vom Juli 2021 nahe, aus dem hervorgeht, dass sich die Zahl der Über-60-jährigen Gamer seit Mitte 2020 verdoppelt hat, während die Gesamtzahl der Gamer im selben Zeitraum um nur 10 Prozent stieg. Rund 23 Prozent der Senioren in China spielen Handyspiele, fand die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften heraus. Chinas Minderjährige, die heute noch vom Staat vor übermäßigem Spielen geschützt werden, können sich also schon mal auf die Rente freuen.

Info:

Zum englischsprachigen Artikel über das Thema geht es hier lang: https://www.sixthtone.com/news/1009111/chinas-elderly-have-a-new-obsession-video-games; Wer Yang Laotou beim Spielen zusehen will, Kostproben gibt es hier: https://space.bilibili.com/381337474?spm_id_from=333.788.b_765f7570696e666f.2 ; Wer dem „alten Wind“ beim Spielen zusehen will, eine Kostprobe gibt es hier: https://www.bilibili.com/video/BV1RP4y1p7L2?from=search&seid=6055965544262026399&spm_id_from=333.337.0.0

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