Die Unzufriedenheit – oder ist es bereits Wut? – in der Expat-Community Chinas nimmt fast täglich zu. Die Lockdowns in Shanghai und Beijing (aber auch in vielen anderen Städten) zehren an den Nerven. Manager wissen nicht, wie sie ihre Fabriken am Laufen halten können. Familien leiden unter den rigiden Quarantäne-Bedingungen. Manche fliehen, wenn Sie denn einen Platz in einem Flugzeug ergattern. Selbst bislang wohlwollende China-Beobachter schwenken angesichts dieser Umstände ins Lager der Kritiker. Drei Namen stehen mehr oder weniger für diese Kursänderung: Stephen Roach, Weijian Shan und Jörg Wuttke. Stephen Roach war Chefökonom der Investmentbank Morgan Stanley, heute lehrt er an der Yale University. Er gilt als einer der besten Kenner der chinesischen Wirtschaft. Er sagt von sich: „I´m a longtime optimist with respect to China.” Aber in einem Interview mit Jeremy Goldkorn (SupChina) kritisiert er nun “the lack of flexibility in Chinese policy and unwillingness to rethink strategy”. In seinem neuen im Herbst erscheinenden Buch („Accidental Conflict – America. China, and the Clash of False Narratives“) geht er mit der Kritik offenbar noch weiter, so dass Roach jetzt schon fürchtet nach Erscheinen keinen Zugang mehr zu seinen chinesischen Kontakten zu erhalten. Auch Weijian Shan war lange Zeit ein Verteidiger der chinesischen Führung, hieß sogar das Vorgehen in Xinjiang für gut. Als Chef der Hongkonger Private-Equity-Firma PAG hat er viele Milliarden in China investiert. Doch nun waren von ihm ungewöhnliche kritische Töne zu hören. Die waren freilich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, doch das Video einer internen Sitzung wurde der Financial Times zugespielt. Darin sagt Shan: „I think that to a very large extent the crisis is man-made. We have a leadership who think they know what is best for the economy and best for the livelihood of the people. Unfortunately I think their knowledge and their rationality are both limited.” Er kritisiert die “draconian” Covid-Politik und deren “profound” Auswirkungen auf die Wirtschaft. Einen ähnlichen Wirtschaftskompetenzverlust attestiert auch Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in China. In einem NZZ-Interview sagt er: „In Chinas Politik kommen die Wirtschaftsleute momentan kaum mehr durch.“ Die Bürgermeister und die Regionalpolitiker hätten derzeit alle nur eine Messgröße: Null Covid. Wuttke weiter: „Sie werden nicht aus ihrem Job geschmissen, wenn es der Wirtschaft in ihrer Region durchschnittlich schlecht geht – aber sie verlieren ihren Job, wenn sie Covid-Fälle zulassen.“ Wuttke macht sich Sorgen: „China ist dabei, seine Glaubwürdigkeit als besten Sourcing-Standort der Welt zu verlieren.“
Diese Aussage bestätigen aktuelle Umfragen der zwei bedeutendsten Handelskammern in China. Erst veröffentlichte die Europäische Handelskammer (EUCCC), dann die amerikanische Kammer (AmCham) einen sogenannten Flash Survey. Danach gehen rund 60 Prozent der amerikanischen und europäischen Unternehmen in China von einem Umsatzrückgang in diesem Jahr aus. Ein beträchtlicher Teil will die Investitionen in China kürzen, verzögern oder gar verlagern. (Kurz vor Redaktionsschluss meldete sich noch die deutsche Auslandshandelskammer AHK mit einem weiteren Flash Survey, siehe dazu Info).
Jörg Wuttke geht deshalb davon aus, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft „unterhalb von vier Prozent sein wird“ (Die Regierung peilt 5,5 Prozent an). Aber wie tief die Rate fallen werde, wisse man nicht, sagt Wuttke. Aber wer weiß, vielleicht hat ein Einbruch auch was Gutes. Jörg Wuttke, der in seinen langen China-Jahren viele Höhen und Tiefen erlebt hat, orakelt: „Vielleicht wird es wieder ein Umdenken geben, wenn die heimische Wirtschaft am Stock geht, vielleicht merken sie dann in Peking, dass sie die ausländischen Unternehmen eben doch brauchen.“
Info:
Interview Stephen Roach: https://supchina.com/2022/04/29/the-china-cushion-has-deflated-qa-with-stephen-roach/
Interview Jörg Wuttke: https://themarket.ch/interview/chinas-fuehrung-fliegt-das-eigene-narrativ-um-die-ohren-ld.6543
EUCCC-Umfrage: https://www.europeanchamber.com.cn/en/press-releases/3431
AmCham-Umfrage: https://www.amchamchina.org/us-business-confidence-in-china-shaken-amid-growing-impact-of-covid-19-outbreaks/
AHK-Umfrage: https://china.ahk.de/news/news-details/german-chamber-flash-survey-may-2022