CHINAHIRN fragt Shi Ming, Co-Autor des Buches “Chinesisches Denken der Gegenwart”

Shi Ming lebt seit 1989 in Deutschland und dürfte eines der bekanntesten chinesischen Gesichter hierzulande sein. In vielen Fernsehdiskussionen redete der Journalist und Autor stets eloquent wie kompetent über die Lage in seinem Heimatland China. Soeben hat er zusammen mit dem Freiburger Sinologie-Professor Daniel Leese im C. H. Beck Verlag das Buch „Chinesisches Denken der Gegenwart – Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft“ (siehe CHINAHIRN 67) veröffentlicht, in dem Texte von 22 Intellektuellen zu den vier Themenkomplexen Chinesisches Selbstverständnis, Staatsdenken und Herrschaftslegitimation, Bauernfrage und ländliche Entwicklung sowie Zukunftsperspektiven übersetzt und eingeordnet werden. Wir sprachen mit Shi Ming über die Entstehung des Buches und die aktuelle Intellektuellenszene Chinas.

Wie ist die Buchidee entstanden, und wie seid ihr beiden Autoren zusammengekommen?

Die Idee hatte zuerst Daniel Leese. Er hat mich gefragt, ob ich mich beteiligen möchte. Wir wollten zunächst nur die liberalen Beiträge vorstellen. Nach einigem Hin und Her, auch mit dem Verlag, kamen wir auf die Idee, ein Debattenbuch zu machen. Speziell für mich war es wichtig, dem deutschen Publikum zu zeigen, dass die Intellektuellen nicht nur debattieren, sondern dass sie so viele Bezüge aus unterschiedlichen Richtungen einbinden, nicht nur aus dem Westen, sondern auch chinesische Traditionen und ihre eigenen Erfahrungen berücksichtigen. Wir wollen unter anderem mit diesem Buch ein Bild der gegenwärtigen chinesischen Intellektuellenszene zeichnen.

Wie sieht denn diese Intellektuellenszene aus?        

Sie ist vielfältiger als viele hier im Westen glauben. Sie ist keinesfalls monolithisch. Es gibt nicht nur eine Richtung der Debatte, sondern sehr unterschiedliche, die häufig Bezug aufeinander nehmen. Wenn wir das China der Gegenwart zeichnen, dann müssen wir diese Kontroversen aufzeigen. Grob gesagt kann man drei Richtungen unterscheiden: Neue Linke, Liberale und Neo-Konfuzianer. Viele Intellektuelle im Westen machen es sich zu bequem und einfach, indem sie nur die Debattenbeiträge derjenigen Intellektuellen begrüßen, die ohnehin ihrer Meinung sind, und das sind meist die sogenannten liberalen Stimmen. Aber auch die, die anderer Meinung sind, haben Argumente und Rationalitäten. Wir müssen auch diese Stimmen ernst nehmen.

Wie laufen denn diese innerchinesischen Debatten ab?

Die gesamte Kultur der intellektuellen Debatten in China hat sich verändert. Es wird immer auch ein bisschen polemisiert, aber kaum jemand beschimpft noch andere. Sie schonen die anderen Positionen bis zu einem gewissen Grad nicht, aber sie geben kaum noch ein ideologisch vernichtendes Urteil ab, indem sie den Andersdenkenden als Verräter oder gar – wie es früher vorkam – als historischen Abschaum verunglimpfen. Dieser Umgang unter den Intellektuellen ist ein sehr großer Fortschritt. Und noch etwas fällt auf: Diese intellektuellen Beiträge sind meist keine reinen akademischen Meinungsdarstellungen. Sie sind sehr nahe an der Realität. Und diese Nähe ist eine weitere Qualität dieser Debatte. Eine der Kernbotschaften unseres Buches lautet deshalb auch: Wir dürfen diese Intellektuellen nicht als pure Stubenhocker sehen. Das wollen sie auch nicht sein.

Diese Intellektuellen diskutieren aber in einem System, in dem eine Partei – die Kommunistische Partei Chinas – das Macht- und Meinungsmonopol hat. Wieviel Raum haben sie denn? Oder anders gefragt: Was sind die roten Linien, die sie nicht überschreiten dürfen?

Es gibt natürlich politische Themen, die tabu sind. Zum Beispiel die Verstaatlichung der Armee, die Demokratie-Diskussion in Folge der Charta 08 oder die generelle Frage, ob die Partei über der Verfassung steht. Daneben gibt es einige rote Linien, die heute so und morgen so definiert werden. So variierte der Umgang mit dem Konfuzianismus immer wieder. Mal war er verpönt, mal erwünscht oder zumindest toleriert. Oder auch die Beurteilung der Mao-Ära unterlag regelmäßigen Schwankungen. 

Wie sieht denn die KP diese Debatten? Nimmt sie daran teil? Oder nimmt sie gar Gedanken auf?

Auch die Machthaber haben begriffen, dass es nicht nur eine Meinung gibt bzw. geben kann. Sie müssen andere Meinungen zulassen, gegebenenfalls, nämlich wenn es ihnen nützt, sogar fördern. Das ist der größte Fortschritt der chinesischen Moderne unter dieser Partei. Aber unter Xi Jinping ist diese Vielfalt stark eingeschränkt worden, weshalb er zurecht kritisiert wird. Doch auch unter ihm erzwingen die Intellektuellen manchmal für sich Gehör. Bestes Beispiel ist die Russland-Diskussion. Anfangs wurde gefragt: Sollen wir jenen Intellektuellen folgen, die da sagen, wir müssen Russland unterstützen, denn wenn Russland kippt, sind wir alleine gegen den Westen? Wir wissen zwar, dass Russland der Aggressor ist, aber aus unserem nationalistischen Interesse heraus bleibt uns gar nichts anderes übrig. Die chinesische Führung folgte einige Monate genau dieser Position. Dann plötzlich wurde ihr klar: Nein, die andere Seite, die auf Distanz zu Russland geht, ist nicht weniger wichtig. So gesehen gibt es eine Interessenvielfalt, die Intellektuelle wiedergeben, dank einer gewissen, tolerierten Vielfalt der wohl temperierten Meinungen.

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