GESELLSCHAFT I Drei, zwei, eins – oder doch keins? Wie viele Kinder sind in China genug? / Von Imke Vidal

4-2-1 lautete jahrzehntelang die überall in der Volksrepublik gängige Formel, um die chinesische Durchschnittsfamilie zu beschreiben. 4 Großeltern, 2 Eltern, 1 Kind: auch 6 plus 1 genannt. Dinge in Zahlen auszudrücken, ist ein Phänomen in China. Die Mathematik staatlicher Familienplanung war jedoch in China von Anfang an umstritten und die vieldiskutierte Ein-Kind-Politik mit ihr. Anders als Zahlen altern Menschen. Im 4-2-1-System der Ein-Kind-Politik war das nicht nur für das Rentensystem und die Wirtschaft eine Herausforderung. Über kurz oder lang kehrt sich der Betreuungsschlüssel nämlich mehr oder weniger um. Aus sechs Erwachsenen, die sich im Optimalfall um ein Kind kümmern, werden dann alte Menschen, um die sich das erwachsen gewordene Kind allein kümmern muss. Nach dem Tod der Großeltern (die meist noch von den Eltern gepflegt werden), muss das einzige Kind der Familie sich allein um beide Elternteile kümmern, wenn diese im Alter auf Hilfe angewiesen sind. Wenn in der Ehe beide Partner Einzelkinder sind, müssen sie sich zu zweit um Eltern und Schwiegereltern kümmern. Das kann eine Familie hart treffen, zumal neben Job und Kind. Auch deshalb gilt in China heute eine Drei-Kind-Politik. Mehr Nachwuchs soll helfen, der jungen Generation künftig die Last von den Schultern zu nehmen. Längst bemüht sich der Staat mit allerlei Angeboten, jungen Familien mit zwei Kindern noch ein drittes Kind schmackhaft zu machen. So winken Steuervorteile und Entlastungen, zum Beispiel bei der Altenpflege.  Doch so einfach ist die Umstellung dann doch nicht. Wie Familien mit mehreren Kindern funktionieren, hat vor allem die urbane Gesellschaft in China fast vergessen.

Die legendäre chinesische Ein-Kind-Politik war eigentlich von Anfang an ein auf Zeit geplantes Modell. Von Beginn an forderten chinesische Experten und Politikberater, diese Politik nur kurzzeitig anzuwenden und baldmöglichst schrittweise zu lockern. Ausnahmen hat es immer gegeben: zum Beispiel für Minderheiten oder die Landbevölkerung. Solche Ausnahmen wurden im Laufe der Jahre immer wieder neu formuliert und erweitert. Bald durften verheiratete Paare ein zweites Kind bekommen, wenn beide Ehepartner ihrerseits Einzelkinder waren. Einerseits war es in China alltäglich geworden, dass der Staat in Sachen Familienplanung mitmischt. Andererseits blieb diese Politik bis in jede Familie hinein immer umstritten. Zwar hat sie ihr Ziel erreicht: Die unkontrollierte Bevölkerungsexplosion wurde gestoppt. Doch schon seit vielen Jahren erlebt China, was chinesische Soziologen und Demographen von Anfang an befürchteten: ein wachsendes demographisches Ungleichgewicht in einer schnell alternden Gesellschaft. Um das vorauszusehen, brauchte es wahrlich keine hellseherischen Fähigkeiten. Auch deshalb zog die Regierung die Reißleine. 2015 wurde die Ein-Kind-Politik so weit gelockert, dass verheiratete Paare seither zwei Kinder bekommen dürfen. Nun sind seit 2021 drei Kinder erlaubt und sogar erwünscht. Und zwar auch deshalb, weil nur wenige Familien seit 2015 ein zweites Kind bekommen. Die Anzahl der Geburten ist chinaweit weiter gesunken. Mehr als ein Kind zu haben, können sich viele Familien in China nur noch schwer vorstellen. Und doch gibt es sie inzwischen: die chinesische Drei-Kind-Familie.

Die China Youth Daily widmete im Sommer 2021 Müttern von drei Kindern einen eigenen Artikel. Vor allem in den Städten sind diese noch immer die Ausnahme. So sehr, dass die Eltern angestarrt und angesprochen werden, wenn sie mit drei Kindern in der Öffentlichkeit unterwegs sind. Gegenüber der Youth Daily sagten die Mütter sinngemäß und auffallend einstimmig, mehrere Kinder zu haben sei eine Bereicherung für die Familie, aber schwierig. Zwar sei es schön zu sehen, wie die Kinder von den Geschwistern profitierten, gemeinsam spielten und dann sogar leichter zu betreuen seien. Dennoch wollte keine der befragten Mütter anderen Frauen vorbehaltlos empfehlen, drei Kinder zu bekommen. Die von den Müttern geäußerten Sorgen decken sich mit Studienergebnissen aus China. Diese sehen die finanzielle Situation als Hauptgrund, sich gegen mehrere Kinder zu entscheiden. Ähnliches berichten die Mütter im Youth Daily Artikel: Wer mehr als ein Kind plane, müsse vielleicht nicht unbedingt reich sein, aber man müsse sich klarmachen, dass man drei Kinder nicht so fördern könne wie ein Einzelkind.

Tatsächlich lassen sich chinesische Familien ihre Einzelkinder einiges kosten. Gleich nach den allgemeinen Lebenskosten und Eigenheimkrediten gehören Kinder zu den größten Investitionen chinesischer Familien. Viel Geld fließt in Privatunterricht: außerschulische Nachhilfe, Mathematikförderung, Sprachunterricht – aber auch musikalische und künstlerische Förderung sowie Tanz und Sport lässt man sich gerne etwas kosten. Es soll dem Nachwuchs an nichts mangeln. Er muss gut gewappnet sein, um den Erwartungen an die junge Generation zu entsprechen. Nun lockt der Staat zusätzlich mit finanziellen Hilfen: Neben Steuervorteilen gibt es Wohngeld. Neue Maßnahmen zur Verbesserung der Betreuung von Kleinkindern für Familien setzen die Anreize so, dass das zweite und dritte Kind belohnt werden. Doch nach jahrzehntelanger politischer Indoktrinierung und aus Mangel an praktischen Vorbildern ist ein Familienmodell mit mehr als einem Kind für viele Chinesen bislang unattraktiv.

Propagandamaterial aus Zeiten der Ein-Kind-Politik macht deutlich, wie nachhaltig man den Glauben an kinderreiche Familien zerstören wollte. Auf einem Propagandawerk aus den 80er Jahren werden je eine Familie mit einem, zwei und schließlich drei Kindern gezeigt. Die Ein-Kind-Familie lächelt, die mit zwei Kindern wirkt ernst. Die Familie mit drei Kindern schaut grimmig drein. Dazu passen die Überschriften zu den drei Modellen: „komfortabel“ (ein Kind), „anstrengend“ (zwei Kinder) und „schrecklich“ (drei Kinder). Die damals vorherrschende Politik nach dem Prinzip „spät, selten und wenige [Kinder]“ setzte auch bei der Familienplanung auf Klasse statt Masse. Schon in den 1970er Jahren lautete ein Slogan zur Familienplanung: „Ein Kind ist nicht wenig, zwei sind gerade richtig, drei sind zu viele“. 

Im Artikel der Youth Daily äußert eine der Mütter, ein einzelnes Kind könne man gewissenhaft aufziehen. Bei drei Kindern müsse man den Dingen ihren Lauf lassen. Als dreifache Mutter, die ihre Entscheidung nicht bereut, hat sie sich damit abgefunden. Die chinesische Idee von optimaler Kindererziehung, bei uns spräche man von Helikoptereltern, aber funktioniert vor allem mit einem Kind. Bei zwei Kindern schon schlechter. Mit drei Kindern braucht es dann nicht nur mehr Geld, sondern vor allem mehr Zeit und mehr Erwachsene, um allen Kindern gleichermaßen Nachhilfe, Sport und Musikunterricht angedeihen zu lassen.

Seit Einführung der Zwei-Kind-Politik lautet der neue Slogan: „Ein Kind reicht nicht, zwei sind genau richtig“. Geht man nach der Geburtenrate, überzeugt er chinesische Paare nur mäßig. Vielen dürfte dieser neue Slogan außerdem bekannt vorkommen. Er ist nur eine leichte Abwandlung des Slogans, der für die Ein-Kind-Politik warb. Kommt also zur Drei-Kind-Politik demnächst der Slogan: Ein Kind ist kein Kind, zwei sind nicht genug, drei sind genau richtig? Oder gelingt es der Regierung durch politische Maßnahmen ein Umfeld zu schaffen, das es Eltern erleichtert, sich für mehrere Kinder zu entscheiden?

Eine weitere mathematisch anmutende Formel hätte das Potenzial dazu. 2+5 heißt der Plan, der es Eltern künftig erleichtern soll, Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bekommen. Derzeit fällt es Frauen in China nach der Geburt eines Kindes schwer, in den Beruf zurückzukehren. Insbesondere Frauen mit zwei oder mehr Kindern leiden unter der Doppelbelastung von Familie und Beruf. Dank 2+5 könnte sich das ändern. Die Formel bedeutet, dass an den fünf Arbeitstagen der Woche für mindestens zwei Stunden zusätzliche Kinderbetreuung nach der Schule oder Vorschule angeboten werden soll. Das Bildungsministerium gab außerdem bekannt, den Zugang zu Einrichtungen für frühkindliche Bildung (Kitas und Kindergärten) erhöhen zu wollen. Bis zum Jahr 2025 sollen landesweit über 90 Prozent der Kinder die letzten drei Jahre vor der Grundschule eine solche Einrichtung besuchen können. Das ist eine kleine Revolution: Bisher gibt es in China für Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter kaum öffentliche Kindergärten. Solche Maßnahmen scheinen daher eher geeignet, die Geburtenrate anzukurbeln als schnöde Slogans, die noch aus den 70ern zu stammen scheinen.

Info:

Hier ein Artikel über die Drei-Kind-Politik:https://www.vice.com/en/article/akg3ee/china-three-child-policy

Bildungsministerium über Kitas uns Kindergärten (in Chinesisch): https://www.gov.cn/xinwen/2021-07/22/content_5626690.htm

Zu Slogans der Familienplanung (in Chinesisch): https://www.thepaper.cn/newsDetail_forward_1358030

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