Rainald Simon (72) ging Ende der 70er Jahre aus seiner mittelhessischen Heimat in das große, nachrevolutionäre (nicht 1848, sondern 1968!) Frankfurt, um dort (und später auch in Shanghai) Sinologie zu studieren. 1983 promovierte er über den Dichter Su Dongpo (1014-1036). Simon arbeitete anschließend als Lehrbeauftragter an der Universität Frankfurt und als Übersetzer. Seine wichtigsten Werke „Daodejing – Das Buch vom Weg und seiner Wirkung“ von Laozi, „Yijing – Buch der Wandlungen“ sowie „Shijing – Das altchinesische Buch der Lieder“, erschienen alle im Reclam Verlag. Vor ein paar Jahren zog Simon zurück in seine Heimat. In Amöneburg bei Marburg kaufte und renovierte er ein Bauernhaus. Dort hat er sich eine „Übersetzerhütte“ eingerichtet, aus der er mir per Zoom Rede und Antwort stand bzw. saß.
Herr Simon, wie kommt man auf die Idee, ein solches Mammutwerk zu übersetzen?
Ich beschäftige mich seit meinem 18. Lebensjahr mit China. Ich betrachte mich als einen Freund der Kultur Chinas. Dieses China ist ein Teil meines Lebens, auch wenn ich mir stets eine kritische Haltung zu diesem Land bewahrt habe. Auf das Buch stieß ich irgendwann mal auf dem noch alten Flughafen Beijings. Kurz vor einem Rückflug nach Europa sah ich dort die englische Übersetzung liegen. Ich kaufte sie und dachte mir: Das musst Du irgendwann mal ins Deutsche übersetzen.
Aber es hat dann doch ein paar Jahre gedauert, bis Sie diese Aufgabe in Angriff nahmen…
Dieter Meier, mein Lektor beim Reclam Verlag, kam mit der Idee auf mich zu, dieses Werk zu übersetzen. Bislang gab es nur eine unvollständige deutsche Übersetzung von Fritz Kuhn. Meier, der eigentlich Romanist ist, hatte die französische Übersetzung von Jacques Dars gelesen. Aus irgendwelchen Gründen klappte es dann doch nicht mit Reclam. Ich hatte aber schon mit dem Übersetzen angefangen und suchte deshalb einen neuen Verlag. Ich kam mit der Suhrkamp-Verlegerin Frau Unseld-Berkéwicz ins Gespräch, die dann eine Veröffentlichung im Insel-Verlag ermöglichte. Und ich konnte mit meiner Übersetzungsarbeit weitermachen.
Wie lange hat sie gedauert?
Die reine Übersetzungsarbeit dauerte sechs Jahre. Es folgte danach ein intensives Jahr des Austausches mit meiner Lektorin Heike Ochs. Dazu muss man wissen, dass dieses Werk – wie viele in der Ming-Zeit – auf Erzählungen basierte und deshalb aus sehr einfachen Sätzen bestand, die im Extrem an die Erzählweise eines Kindes erinnerte. Meine Übersetzung hatte in der ersten Fassung eine manchmal monotone Struktur. Diese wurde durch die Überarbeitung in engem Austausch mit Frau Ochs aufgebrochen.
Wie muss man sich das Leben eines Übersetzers, der sich so lange mit nur einem Werk beschäftigt, vorstellen?
Es ist ein sehr einsames Leben. Man lebt sehr zurückgezogen. Ich bin jeden Morgen um 5 Uhr aufgestanden und saß spätestens um 7 Uhr am Schreibtisch. Gearbeitet habe ich rund sechs Stunden am Tag. Das ist wie ein Marathonlauf. Aber ich war in meiner Jugend ein Wandervogel. Da lernte ich, mit einer Last auf dem Rücken Berge zu erklimmen. Diese Beharrlichkeit und Disziplin habe ich mir bis heute erhalten.
Zum Inhalt: Diese 108 Briganten, die im Mittelpunkt des Romans stehen – Was sind das für Menschen? Räuber, Rebellen oder gar Mörder?
Das sind keine bösen Menschen, obwohl sie zum Teil unglaubliche Gewalt anwenden. Sie lehnen sich gegen die Gewalt der Herrschenden und die Rechtlosigkeit auf. Sie sind alle kohlhaassche Typen.
Sie sind also keine Revolutionäre, die den Umsturz des kaiserlichen Regimes anstreben?
Nein, ihr eigentliches Ziel ist, dass in der bestehenden Ordnung das Recht und die Würde des Individuums berücksichtigt und anerkannt wird.
Da sehe ich Parallelen zum heutigen China…
…diese Parallelen zur heutigen Zeit liegen auf der Hand und sind sowohl erwünscht als auch erlaubt. China war immer eine Autokratie, ohne Partizipation der Einzelnen. Das ist auch das Problem des heutigen China.