GESELLSCHAFT I Ungleichheit in China – warum protestiert niemand?

China hat eine der ungleichesten Gesellschaften der Welt. Das bestätigt der sogenannte Gini-Koeffizient, der sich in der Wissenschaft als Gradmesser für die (Un-)Gleichheit einer Gesellschaft durchgesetzt hat. Aber auch wenn man diesen Koeffizienten nicht kennt, sieht jeder China-Reisende, wie groß die Kluft im Lande ist. Eine Zugfahrt raus aus den Glitzermetropolen in die ländlichen Gegenden ist eine Reise in eine andere Welt. Und auch im Straßenbild der Großstädte treffen Welten aufeinander: Hier der Maserati-Fahrer, dort der Radfahrer, der einen turmhohen Berg an Altpapier transportiert. Es stellen sich Fragen: Warum gibt es in einem Land, das sich formal kommunistisch nennt, eine solche Ungleichheit? Warum akzeptieren offenbar die Abgehängten diesen Zustand? Warum lehnen sie sich nicht auf?

Fragen, denen Ilaria Mazzocco und Scott Kennedy (CSIS) in dem Beitrag „Is It Me or the Economic System?” nachgingen. Sie beschreiben zunächst, dass die 90er Jahre und die anschließenden Nullerjahre ein starkes Wirtschaftswachstum, aber auch eine deutliche Ungleichheit produzierten. Es entstand eine chinesische Gesellschaft, die ungleicher war als die in den USA und sogar in vielen Ländern Lateinamerikas. Nach konventionellem Denken hätte dies zu Protesten, politischer Instabilität und letztlich auch zu einer Gefahr für die herrschende KP führen müssen.

Aber all das ist in China nicht eingetreten. Warum? Mazzocco und Kennedy zählen eine Reihe von Gründen auf und beziehen sich ausführlich auf die Untersuchungen eines Teams um den Harvard-Soziologen Martin King Whyte. Er schrieb 2010 das Buch „Myth of the Social Volcano: Perceptions of Inequality and Distributive Justice in Contemporary China” (Stanford University Press). Das wiederum basierte auf empirischen Umfragen unter Chinesen. Damals sahen viele Chinesen Ungleichheit as „ a legitimate outcome of a market economy“. Der Einzelne habe sein Schicksal selbst in der Hand: Wer hart arbeite, komme nach oben. „Instead of crediting or blaming the economic system, responsibility was placed on the shoulders of individuals”, fassen Mazzocco und Kennedy die Stimmung von damals zusammen.

Aber stimmt diese Haltung zur Ungleichheit heute noch? Um diese Frage zu beantworten, haben Whyte und Scott Rozelle (Stanford University) 2023 erneut eine Umfrage mit Hilfe einer Alibaba-App gemacht, über deren Ergebnisse nun Mazzocco und Kennedy berichten. Und siehe da: Die Haltung der Chinesen zu den Ursachen von Ungleichheit hat sich gravierend verändert. Nun wird das System verantwortlich gemacht. Die beiden Autoren resümieren: “The surveys show that people in China today have less confidence than in earlier decades that the country´s economic system and institutions provide fair opportunities for members of society.”

Könnte diese veränderte Haltung zu Protesten führen? “Whyte and his colleagues do not believe major political instability is on the horizon.” Warum? Die Regierung habe zumindest das Problem erkannt und versuche mit der Politik des „Common Prosperity“ gegenzuhalten. Statt zu protestieren oder gar das System herauszufordern, seien von der Bevölkerung „continued signs of passive resistance“ zu erwarten. Dies zeige sich ja bereits an den Bewegungen des „lying down“ oder „laying low“. Und zudem würden viele Chinesen mit den Füßen abstimmen und das Land verlassen.

Info:

Den Artikel von Ilaria Mazzocco und Scott Kennedy über die veränderte Haltung der Chinesen zur Ungleichheit kann man hier downloaden: https://bigdatachina.csis.org/is-it-me-or-the-economic-system-changing-evaluations-of-inequality-in-china/

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