Jörg Wuttke (65) war die wichtigste Stimme Europas in China. Er war zwar hauptberuflich Repräsentant des Chemiekonzerns BASF in China, aber bekannt wurde er als Präsident der Europäischen Handelskammer in China. Auf ihn haben viele gehört: Politiker in Berlin, Brüssel – und auch in Beijing. Die Medien zitierten ihn gerne, weil er stets erreichbar war und meist Klartext sprach.
Wuttke kennt China seit über 40 Jahren. 1982 reiste er mit der Transsib zum ersten Mal in das Land. Seit über 35 Jahren ist er beruflich dort unterwegs – erst bei ABB, dann bei BASF. Nebenbei engagierte er sich stets in den Handelskammern – erst in der deutschen, dann in der europäischen, die er mitgründete.
Nun haben Wuttke und seine Familie – Frau und drei Söhne – Ende Juli China Richtung USA verlassen. In Washington will er „noch mal durchstarten“, wie er gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagt. In der amerikanischen Hauptstadt wird Wuttke Partner des Beratungsunternehmens DGA Albright Stonebridge Group, wo er Vorstände in den USA, aber auch in Europa zu und über China beraten will. „Ich verlasse China, aber China verlässt mich nicht“, sagte er in einem seiner letzten Interviews vor Ort mit Sabine Gusbeth vom Handelsblatt.
Bevor er Beijing verließ, gab er noch ein paar andere Interviews. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung (FAS) stand er in seinem leeren Haus Rede und Antwort. Den Beijinger Bürochef der Financial Times, Joe Leahy, hat er noch eingeladen, bevor die Umzugskartons gepackt waren, damit dieser eine Episode in der Serie „At Home with the FT“ verfassen konnte. In diesem Artikel bekommt man Einblicke in Wuttkes Wohn-, aber auch Gefühlswelt kurz vor seinem Abschied aus China. Leahy durfte sich in Wuttkes Villa im Beijing Riviera, einem in den 90er Jahren entstandenen Expat-Compound, umschauen. Das vierstöckige Haus ist voller alter und moderner Kunst – Kalligraphien, Terrakotta-Krieger, Bücher, Drucke und Gemälde. Einer der Drucke zeigt Deng Xiaoping, den großen Reformpolitiker und Vater des chinesischen Wirtschaftswunders. Wuttke steht davor und sagt: „Looking at this picture, it feels like I’m looking at a dissident.” Wuttke ist mit Dengs Reformpolitik und seinen Protagonisten groß geworden: “I’m a child of the Zhu Rongji-era.“ (Zhu Rongji war der reformfreudige Premierminister Ende der 90er Jahre und anfangs der nulller Jahre). Und wie beurteilt Wuttke das heutige China? Kritisch, sehr kritisch. Gegenüber der FT sagt er: „Now there is the tendency that everybody has the same opinion because that´s what they were told to say. It just makes me sad.”
Im Interview mit den FAS-Korrespondenten Jochen Stahnke und Gustav Theile wurde er dann noch deutlicher. Dort fielen einige kernige Sätze. „Die Kommunistische Partei spricht die Sprache der Sechziger Jahre. Sie haben große Probleme, die Herzen der Leute zu erreichen.“ Wenig Positives sagt er über Xi Jinping. Er habe das Land leninistisch gemacht, er misstraue dem Markt. Wuttke glaubt, dass Xi „bis zum Ende“ durchhalten wird. Besonders betroffen machte ihn, dass viele seiner chinesischen Gesprächspartner seiner Einladung zum Abschied nicht folgten: „Ich habe einige zu mir nach Hause eingeladen. Etliche von denen waren Vizeminister oder höher. Niemand ist gekommen, weil Botschafter und Journalisten da waren. Sie müssen aufpassen, wo sie gesehen werden.“ Frust klingt auch bei Wuttkes Worten über deutsche Politiker und Manager durch: „Unsere Politiker waren lange naiv. Viele der Konzernchefs glauben, dass es so weitergeht, und merken nicht, wie sich die Zwangsjacke schließt.“
In Washington will er endlich auch ein Buch schreiben. Schon einmal hat er das versucht. Zusammen mit dem damaligen deutschen Botschafter Volker Stanzel wollte er 2007 den Un- und Halbwissenden ihr China erklären. Das Gemeinschaftswerk lief unter dem Namen „Projekt Käsekuchen“, denn die beiden trafen sich damals sonntagnachmittags im berühmten Café Bookworm im Beijinger Szeneviertel Sanlitun zu Kaffee und Kuchen. Aus dem Buchprojekt wurde damals nichts. Aber diesmal soll es klappen. Es wird – so verriet Wuttke der FAS – eine Autobiographie. Die Hälfte habe er schon geschafft.
Also keine Sorge: Wir werden weiterhin von Jörg Wuttke hören – und lesen.
Und kaum habe ich diese Zeilen beendet, stoße ich schon auf einen Linkedin-Post von Wuttke. Am 8. August ist dort ein Bild zu sehen, auf dem er entspannt lächelnd in seinem noch karg eingerichteten Büro auf der fünften Etage eines Gebäudes in der legendären K Street sitzt. Dazu schreibt er: „First days in the DGA are very nice…My departure in July from China was very strenuous and more complex than anticipated. I left exhausted.”
Wuttke ist in Washington angekommen, seine Umzugscontainer freilich noch nicht. Sie kommen erst im November.