WAN HUA ZHEN I 25 Jahre Wanderarbeiterin – eine persönliche Geschichte / Von Liu Zhengrong

„Xiaozhou“, die „Kleine Zhou“ ist in Wirklichkeit ein Jahr älter als ich. Seit 25 Jahren arbeitet sie im Haushalt einer Nachbarin in Shanghai. Omi Yang, die Chefin der Nachbarfamilie, hatte sie uns damals an ihrem ersten Arbeitstag so vorgestellt. Seit Sommer 1999 war sie also Xiaozhou, auch wenn sie kürzlich 57 Jahre alt geworden ist. Die ganz Jüngeren nennen sie „Tante Xiaozhou“, damit der gebotene Respekt erhalten bleibt.

Xiaozhou stammt aus Deyang, 100 Kilometer nördlich von Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan. Genau genommen ist Deyang die Kreisstadt (mit knapp drei Millionen Einwohnern) und das Verwaltungszentrum von zahlreichen umliegenden Dörfern. In einem dieser Dörfer wurde einst Xiaozhou als das zweite von vier Kindern hineingeboren. 

Mit Anfang 30 unternahm Xiaozhou die größte und folgenreichste Reise ihres Lebens. Nach 25 Stunden Bus- und Bahnfahrt fand sie sich in Shanghai wieder, wo ihr älterer Bruder und die jüngere Schwester schon lebten und arbeiteten. Xiaozhou selbst war lange zögerlich. Es kostete sie viel Überwindung, den einzigen Sohn, der damals 2 Jahre alt war, daheim zurückzulassen. Sichuan galt und gilt zwar als „land of abundance“ (天府之国), bekannt für den fruchtbaren Boden und die Vielfalt der Landwirtschaft. Aber die zum Teil gebirgige Provinz hat auch über 80 Millionen Einwohner. Das kleine Stückchen Ackerland der Zhou-Familie warf zu wenig Erträge aus dem Anbau von Erdnüssen, Chillies und Bohnen ab. Verhungern musste man nicht. Mehr war aber auch nicht drin.

So stießen Xiaozhou und ihre Geschwister zu der auf insgesamt 300 Millionen geschätzten „Mingong“-Population Chinas. Mingong ist nicht gleich „Wanderarbeiter“. Mingong ist der Obergriff von Menschen mit ländlichen Hukou, die jedoch außerhalb des Agrarsektors arbeiten. Die chinesische Statistik wies für 2023 unter den 300 Millionen Mingong 180 Millionen als „auswärtige Mingong“ (外出民工) und unter ihnen wiederum 130 Millionen „auswärtige Mingong mit  Wohnsitz in den Städten (进城民工) aus. Die wirklichen Zahlen dürften um einiges höher sein. Vielleicht 160, vielleicht 180 Millionen.

Mit dem Thema der Wanderarbeiterschaft verbindet man hierzulande seit den 90er Jahren vor allem zwei Schlagzeilen: „Wanderarbeiter in China werden schutzlos ausgebeutet.“ „Die schiere Anzahl der Wanderarbeiter und deren Unzufriedenheit ist eine tickende Zeitbombe für das Regime.“ Für beide Thesen findet man, damals wie heute, zahlreiche Belege. Dennoch: Diese statischen Narrative spiegeln bei weitem nicht die Entwicklung wider, wie sich das Leben der chinesischen Wanderarbeiter über drei Dekaden hinweg verändert hat – mit erstaunlichen Lichtblicken, aber auch neuen Sorgen, oft an unvermuteten Stellen.

Xiaozhou und ihre Geschwister sind die Durchschnittswanderarbeiter, weder sonderlich mutig noch allzu ängstlich, weder Glücksritter noch dauernd vom Pech verfolgt. Anfangsglück hatte Xiaozhou insofern, als dass sie schon am zweiten Tag in Shanghai auf Omi Yang traf. Die Yang-Familie hatte gerade ihren ersten Enkel bekommen und war auf der Suche, wie bei der Mittelschicht Asiens üblich, nach einem Vollzeit -Kindermädchen. Xiaozhou wurde direkt mit nach Hause genommen. Sie bekam 500 RMB im Monat, dazu Verpflegung und eine Schlafmöglichkeit. Ein paar Jahre später hatte sich ihr Verdient schon verdreifacht. Übrigens: Fast die gesamte private Haushaltswirtschaft – ein Multi-Milliarden-Sektor – fließt nicht in die Berechnung der Wirtschaftsleistung ein.     

Als Xiaozhou nach Shanghai kam befand sich Asien gerade in einer Finanzkrise, der Immobilien-Boom fing an und in Taiwan feierte die oppositionelle DDP ihren ersten Wahlsieg. Nichts davon interessierte Xiaozhou, die als Mädchen auf dem Land nur sechs Jahre Grundschule besuchen konnte. Sie wollte, das sagt sie heute, vor allem eines, nicht dem großen Bruder zur Last fallen. Die Yangs waren für Shanghaier Verhältnisse herzliche Menschen. Als mitwohnendes Kindermädchen nahm Xiaozhou an dem Leben der Yang-Familie von Anfang an teil. „Shanghai war Ausland für mich, wahrscheinlich wie Deutschland für dich,“ sagte zu mir heute und kann darüber lachen. 

Damals flossen reichlich Tränen: 2000 verstarb ihr Vater im Dorf. Sie fuhr nicht nach Hause, die Fahrt wäre zu lang und zu teuer gewesen. Und sie wollte auch das Drama vermeiden, den eigenen Sohn nach kurzer Zeit wieder zurücklassen zu müssen. Später, als der Enkel von Omi Yang eingeschult wurde, entschloss sie sich aber doch zu ihrem Sohn zurückzukehren. Doch nach sechs Monaten war sie wieder in Shanghai. Das Dorfleben war nie einfach gewesen. Nun war es, nach fünf Jahren in Shanghai, für Xiaozhou schlicht nicht mehr auszuhalten.

Xiaozhous Rolle wechselte mehrfach über die Zeit. Aus dem anfänglichen Kindermädchen wurde mehr und mehr eine Haushälterin, auch weil Omi Yang gebrechlicher wurde. Xiaozhou wollte noch mehr arbeiten und bekam einen Teilzeitjob an einer Universität, wo ihr Bruder und der zwischenzeitlich ebenfalls angereiste Ehemann jeweils als Hausmeister beschäftigt waren. Dort arbeitete sie fortan als Putzkraft für das Studentenwohnheim. So wie es auch in Deutschland üblich ist, vergab die Uni den Auftrag an ein Dienstleistungsunternehmen. Was man nicht unbedingt vermuten würde, weil es halt China ist: Staatliche Institutionen verlangen von ihren Geschäftspartnern die Einhaltung der Sozialversicherungspflicht.  Davon profitieren Jahr für Jahr immer mehr Wanderarbeiter, auch Xiaozhou und ihr Mann.

Als ich sie nach ihren Finanzen fragte, antwortete sie – nicht untypisch für China – mit Stolz offen und geradeaus: Von Omi Yang bekomme sie inzwischen 2000 RMB im Monat, obwohl sie nur noch Teilzeit für die Familie arbeitet. Dazu kommen 4000 RMB als Putzfrau. Steuern muss sie nicht zahlen. “Wir schlafen im Wohnheim für die Uni-Bediensteten. Das spart sehr viel Geld“.

Aufhören will sie noch nicht. „Ich bin ja noch sehr fit“, sagt sie, „aber, wenn ich nächstes Jahr nach Hause gehen würde, bekäme ich und mein Mann jeweils 2500 RMB an Rente monatlich.“

“Das ist aber erstaunlich viel“, sagte ich. Omi Yang hatte schließlich nichts für ihre Rente eingezahlt. Tatsächlich stammt nur ein Teil der erworbenen Rente von ihrer Arbeit als Putzkraft, mit Beiträgen ihres offiziellen Arbeitgebers. Der Rest hat einen ganz anderen Ursprung. Denn das Ackerland daheim, das der Familie gehörte, wurde vor Jahren von der Gemeinde eingezogen (征地). Dafür wurden Entschädigungen gezahlt, teilweise in bar, teilweise als Rentengutschrift.

Die Aufzählung der Familienfinanzen von Xiaozhou wäre nicht komplett ohne die zwei Wohnungen in Deyang, der Kreisstadt, zu erwähnen. Xiaozhou und ihr Mann hatten die erste Wohnung schon vor 15 Jahren gekauft, für den einzigen Sohn. „Er braucht eine Wohnung, um zu heiraten.“ Damals war der Preis in den kleineren Städten noch erschwinglich für die einfachen Leuten. Zwei Jahre vor Covid kam eine zweite Wohnung dazu, die das Paar für sich kaufte. Diese ist noch nicht abbezahlt. Der Preis ist heute niedriger als damals. Glücklich ist sie darüber nicht, besorgt auch nicht. „Wir haben sie für uns gekauft. Eines Tages werden wir also selbst drin wohnen. Wir sind zu arm, um uns an der (Immobilien-)Spekulation zu beteiligen,“ sagt sie augenzwinkernd.

Wird Xiaozhou heute nach ihren Sorgen gefragt, bekommt man nur einen Teil der Antwort. Die Krankenversicherung zum Beispiel. Solange sie ihren regulären Job hat, ist sie ähnlich abgesichert wie ein Durchschnittsbewohner von Shanghai auch. Hört sie aber auf, oder will der Dienstleister sie wegen der Überschreitung des Rentenalters (50 Jahre bei Frauen) nicht mehr beschäftigen, fällt sie von heute auf morgen. aus der Krankenversicherung heraus. Ich spitzte meine deutschen Ohren: „Das ist ja katastrophal. Dass Du heute eine Rente hast, ist toll. Aber gegen Krankheit ist das Geld nichts.“

„Nein, ganz so ausweglos ist es nicht,“ wurde ich aufgeklärt. Den Begriff „Xin Nong He“ (新农合) kannte ich wirklich nicht. Dieser steht für ein eigenständiges Krankenversicherungssystem speziell für die ländliche Bevölkerung. Dessen flächendeckende Einführung begann erst vor rund 15 Jahren. Xiaozhou und ihr Mann konnten für jeweils 400 RMB im Jahr (vor 15 Jahren waren es allerdings nur 10 RMB pro Person pro Jahr) unter dem Schutz von „Xin Nong He“ schlüpfen. 400 RMB sind auch heute eine empfindliche Summe für Bauern in der ärmeren Gegend Chinas. Für Xiaozhou hingegen ist sie leicht zu stemmen. Was ihr Kopfschmerzen bereitet ist die unzureichende Leistung. Denn diese Versicherung deckt nur einen Teil der Kosten im Falle eines Krankenhausaufenthalts.

Über ihr größte Sorge verliert sie allerdings kein Wort. Dafür kennen wir uns auch nicht gut genug. Es geht um ihren Sohn, der in Abwesenheit der Eltern zuerst von den Großeltern, später von entfernten Verwandten betreut und großgezogen wurde. Dass es kaum eine emotionale Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern gibt, ist nur logisch. Dafür ist der Enkel von Omi Yang praktisch der Ersatzsohn von Xiaozhou geworden. Ihr eigener Sohn hat bis heute keine abgeschlossene Ausbildung. An Geldmangel lag es nicht. Alles, wozu er mal Lust hatte, finanzierten die Eltern breitwillig.  Doch er jobbt nur gelegentlich, chillt lieber er in der von den Eltern zur Verfügung gestellten Wohnung in Deyang und erfreut sich über die monatliche Zuwendung aus Shanghai. Was Xiaozhou wohl mehr schmerzt: Einige Familien in ihrem alten Dorf hatten es nie über Deyang hinausgeschafft. Aber deren Kinder haben es erstaunlich weitergebracht als ihr eigener Sohn.  

Die Eltern können ihm zwar ein kleines Vermögen vererben, aber offenbar nicht die Tugenden, die ihnen zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen haben.

*Hier erfahren Sie mehr über den Autor und den Titel seiner Kolumne: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/

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