„Die Proteste könnten zunehmen, wenn Chinas Wirtschaftsmodell … in den kommenden Jahren weniger wundersam erscheint. … Die rasche Alterung der chinesischen Bevölkerung wird den Anteil der Erwerbstätigen verringern. Niedriglohn-Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe könnten in günstigere Länder verlagert werden. Der Mangel an Arbeitsplätzen verärgert bereits frischgebackene Hochschulabsolventen. Selbst eine geringfügige Verlangsamung der Wachstumsrate Chinas würde also zu mehr wirtschaftlicher Frustration führen, gegen die die Menschen protestieren könnten.“
Was wie eine hochaktuelle Analyse aussieht, stammt aus einem Artikel der New York Times – allerdings von vor fast 20 (!) Jahren – „Rumblings From China“, Nicholas Kristof, 2. Juli 2006). Damals betrug Chinas BIP 2,75 Billionen US-Dollar. 2024 lag es bei 18,28 Billionen – nach Kaufkraftparität (PPP) sogar über 37 Billionen. Trotz der enormen Entwicklung, die weit mehr war als nur die BIP-Steigerung, blieb das westliche China-Narrativ fast unverändert.
Die Geschichte Chinas seit dem Ende der Kulturrevolution ist eine Geschichte des Wettlaufs mit der Zeit. Bisher hat China dieses Rennen stets gewonnen – gegen all jene, die alle paar Jahre seinen Zusammenbruch voraussagten. Nun ist man sich seit einiger Zeit wieder einmal einig, „das chinesische Modell“ sei am Ende, diesmal wirklich.
Wirklich?
Ja, die chinesische Immobilienblase ist geplatzt – eine überfällige Korrektur. In Shanghai lag das Price-to-Income Ratio (das die Erschwinglichkeit von Immobilien misst) zuletzt fast dreimal so hoch wie in New York. Ein solcher Markt kann nicht nachhaltig der Wachstumsmotor sein. Die Korrektur wird noch andauern, wie ähnliche Erfahrungen in zahlreichen anderen Industrienationen zeigen.
Denkwürdig ist jedoch, dass westliche Beobachter die „chinesische Immobilienblase“ bereits in den frühen 2000er-Jahren festzumachen glaubten. Der Spiegel schrieb im April 2004: „Zu den größten Risiken der aufstrebenden Volkswirtschaft gehört die große Zahl an faulen Krediten. Sollte die Immobilienblase platzen, droht China nach den Boomjahren eine scharfe Korrektur.“ Ein paar Jahre später brach tatsächlich die große Finanzkrise aus – aber nicht in China, sondern in den USA, ausgelöst durch die Subprime-Misere.
Rückblickend wissen wir: Anfang 2000 war gerade der Beginn des „Great Housing Boom of China“ (Federal Reserve). Eine Krise um 20 Jahre zu früh auszurufen ist nicht unbedingt Weitsicht, sondern Ausdruck eines „bedingungslosen“ Pessimismus, der unsere Sicht auf China bestimmt. Bis heute.
Meine jüngste Reise nach China hatte keinen wissenschaftlichen oder journalistischen Anspruch. Ich wollte einfach das „zufällige und durchschnittliche“ China erleben – ein Wunsch, der sich auf meiner Reise durch Yunnan erfüllte (Yunnan liegt mit seinem BIP auf Platz 18 aller chinesischen Provinzen.)
Über den Lebensstandard und die Infrastruktur dieser „Durchschnittsregion“ sowie die Herausforderungen durch die „Ungleichmäßigkeit und Ungleichzeitigkeit“ der Entwicklung habe ich bereits einiges geschrieben. Doch am meisten beeindruckten mich die Menschen, denen ich unterwegs begegnete.
Ich sprach täglich mit Fremden – auf der Straße, neben Marktständen, im Schatten riesiger Lorbeerfeigen. Fast alle waren gesprächig, offen und, aus deutscher Perspektive, bemerkenswert lebensfroh. Auffällig war die Mobilität der Menschen: Händler, Taxifahrer, Handwerker, Restaurantbesitzer oder Kellner – viele hatten in den letzten zehn Jahren ihren Wohnort mehrfach gewechselt, oft quer durchs Land, auf der Suche nach besseren Chancen. Ihre Geschichten, mal lächelnd mal selbstironisch erzählt, waren selten einfach, erst recht nicht nach unserer Vorstellung eines guten Lebens. Dennoch hatte ich kaum das Gefühl, mit Menschen zu reden, die Wut im Bauch hätten oder durch das Leben zermürbt wären. Natürlich ging mir die alte Frage nicht aus dem Kopf: Wie weit ist China bzw. sind die Chinesen zu verstehen, wenn man immer nur die Maßstäbe aus einer anderen Welt dafür anlegt?
Die Liebe zur Heimat (bzw. Wahlheimat) war in den Gesprächen stets spürbar, doch ebenso freimütig berichteten viele von den Herausforderungen des Alltags. Ich selbst vermied es, über die Politik zu sprechen. Aber meine Gesprächspartner brachten sie von sich aus zur Sprache. Sie sparten nicht mit Kritik an den lokalen Behörden, mit einer Mischung aus Erbostheit und Resignation. Nur einmal, als meine Schwester scherzte: „Pass auf, er ist eigentlich ein Ausländer“, stockte ein Mann mitten im Satz, sichtlich irritiert. „Blöder Witz“, schimpfte ich mit ihr. Danach setzte er seine Erzählung doch fort. Er sprach über seine Tochter, die trotz ihres Uni-Abschlusses Schwierigkeiten hatte, die erste feste Anstellung zu finden.
Die letzte Handelsblatt-Wochenendausgabe 2024 machte mit folgender Titelzeile auf: „Traumberuf Beamter – Immer mehr Deutsche zieht es in den Staatsdienst. Das hat Folgen für den Standort.“ Das unbekannte Mädchen meines Gesprächspartners in Yunnan hatte sich für denselben Weg entschieden. Sie gehörte zu den drei Millionen Aspiranten, die sich Anfang Dezember für die landesweiten Prüfungen des chinesischen Staatsdienstes registrierten. Chance auf Erfolg: 100 zu 1, vielerorts noch viel kleiner.
China benötigt dringend Arbeitsmarktmaßnahmen, um gezielt jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern. Davon versteht Deutschland eine ganze Menge. Vielleicht könnte die mutmaßlich neue schwarz-rote Bundesregierung China in diesem Bereich einen Erfahrungsaustausch anbieten? Das wäre eine pragmatische, vertrauensbildende Maßnahme für einen Neuanfang der deutsch-chinesischen Beziehungen.
P.S.
Kaum war dieser Beitrag fertig, veröffentlichte die Deutsche Bank am 5. Februar eine neue China-Studie mit dem Titel: „China eats the world – China’s, not AI’s Sputnik Moment“. Die Kernaussage lautet: DeepSeek ist nur die Spitze eines neuen chinesischen Wirtschaftsmodells, dessen tatsächliche Stärke weit unterschätzt wird. China sei nicht vergleichbar mit dem Japan Ende der 80er-Jahre – eine These, die sich verselbständigt hatte. Chinas Wirtschaft in seiner aktuellen Verfassung sei eher wie Japan zu Beginn der 80er, so das Autorenteam. Die Deutsche-Bank-Analyse richtet sich primär an die globalen Investoren. Doch ist es vielleicht Zeit, die Neubewertung Chinas in eine breitere Debatte zu tragen. Nein, man muss China nicht bewundern. Man muss China „nur“ richtig einschätzen. Und, neben all den nüchternen Zahlen und Fakten sollte man, so ist ihr Wan Hua Zhen-Kolumnist überzeugt, das „durchschnittliche China“ immer wieder selbst erleben.